Der Dritte Zwilling.
sprach mit einem vornehmen Südstaatenakzent und redete ein bißchen zu laut, als wäre sie permanent auf einer Versammlung und müßte immerzu versuchen, sich Gehör zu verschaffen. »Oh, gnädige Güte, Major, es ist neun Uhr in der Früh!«
Er zuckte die Achseln. »Ich versuche ja nur, die Party gleich richtig in Schwung zu bringen.«
»Das ist keine Party - diese Damen sind gekommen, um uns zu stu dieren. Und zwar deshalb, weil unser Sohn ein Mörder ist.«
Sie nannte ihn ›unseren Sohn‹, wie Jeannie nicht entging; aber das hatte nicht viel zu besagen. Liebend gern hätte sie gefragt, wer denn nun Dennis’ Eltern waren. Falls die Pinkers zugaben, Dennis adoptiert zu haben, wäre die Hälfte des Puzzles zusammengefügt. Doch Jeannie mußte vorsichtig sein. Es war eine heikle Frage. Falls Jeannie sie zu plötzlich stellte, war die Wahrscheinlichkeit größer, daß die Pinkers sie belogen. Sie mußte sich zwingen, auf den richtigen Augenblick zu warten.
Vor allem konnte sie es kaum erwarten, endlich Dennis Pinker zu Gesicht zu bekommen. War er Steven Logans Doppelgänger, oder war er es nicht? Begierig betrachtete sie die Fotos in den billigen Rahmen, die das kleine Wohnzimmer zierten. Doch sämtliche Aufnahmen waren viele Jahre alt: der kleine Dennis im Kinderwagen, auf einem Dreirad, in einem Baseballanzug, und händeschüttelnd mit Mickey Mouse in Disneyland. Kein einziges Foto zeigte ihn als Heranwachsenden. Zweifellos wollten die Eltern ihn als unschuldigen kleinen Jungen in Erinnerung behalten, bevor er zum überführten Mörder geworden war - was zur Folge hatte, daß Jeannie mit den Fotos nicht das geringste anfangen konnte. Der hellhaarige Zwölfjährige konnte inzwischen das genaue Ebenbild von Steve Logan sein; doch es war ebensogut möglich, daß er zu einem häßlichen, verkümmerten, dunkelhaarigen Burschen herangewachsen war.
Sowohl Charlotte als auch der Major hatten im voraus mehrere Fragebogen ausgefüllt; nun sollte mit beiden ein etwa einstündiges Gespräch geführt werden.
Lisa ging mit dem Major in die Küche, während Jeannie mit der Befragung Charlottes begann.
Sie hatte Mühe, sich auf die Routinefragen zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Steve Logan ab, der jetzt im Gefängnis saß. Jeannie konnte immer noch nicht glauben, daß Steve ein Vergewaltiger war. Daß anderenfalls ihre Theorie in sich zusammenfiel, spielte dabei gar keine so große Rolle. Jeannie mochte diesen jungen Mann: Er war intelligent und sympathisch, und er schien ein freundliches Wesen zu besitzen. Außerdem hatte Steve eine verletzliche Seite: Als er erfahren hatte, daß er einen psychopathischen Zwillingsbruder besaß, hatte er dermaßen entsetzt reagiert, daß Jeannie ihm am liebsten den Arm um die Schultern gelegt und ihn getröstet hätte.
Als sie Charlotte nun fragte, ob andere Familienangehörige jemals Ärger mit dem Gesetz gehabt hätten, richtete Charlotte ihren herrischen Blick auf Jeannie und sagte im schleppenden Südstaaten-Tonfall: »Die Männer in meiner Familie waren schon immer schrecklich gewalttätig. Ich bin eine gebürtige Marlowe, und wir Marlowes sind eine heißblütige Familie.«
Das legte den Verdacht nahe, daß Dennis nicht adoptiert oder daß seine Adoption nicht amtlich bestätigt worden war. Jeannie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Ob Charlotte wohl leugnen würde, daß Dennis ein Zwillingskind sein könnte?
Die Frage mußte gestellt werden. »Besteht die Möglichkeit, Mrs. Pinker, daß Dennis einen Zwilling hat?«
»Nein.«
Die Antwort kam glatt, ganz selbstverständlich, ohne Verärgerung, ohne großes Geschrei. Eine bloße Feststellung.
»Sind Sie sicher?«
Charlotte lachte. »Aber, meine Liebe. Meinen Sie nicht auch, daß eine Mutter sich in dieser Hinsicht schwerlich täuschen kann?«
»Und Dennis ist kein Adoptivkind?«
»Ich habe diesen Jungen unter dem Herzen getragen – möge der Herrgott mir vergeben.«
Jeannies Hoffnungen schwanden. Sie erkannte, daß Charlotte Pinker eine Lüge noch leichter über die Lippen kam als Lorraine Logan; dennoch war es seltsam und beunruhigend zugleich, daß beide Frauen leugneten, daß ihre Söhne Zwillinge sein könnten. Weshalb?
Als sie sich von den Pinkers verabschiedeten, war Jeannie pessimistisch. Sie hatte das Gefühl, daß sie einem ganz anderen Menschen als Steven gegenübertreten würde, wenn sie Dennis das erste Mal zu sehen bekam.
Ihr gemieteter Ford Aspire war vor dem Haus
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