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Der Dritte Zwilling.

Der Dritte Zwilling.

Titel: Der Dritte Zwilling. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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kalter Gewißheit, daß Jeannie ein Schauder über den Rücken lief; zugleich aber war sie als Wissenschaftlerin fasziniert. So etwas hätte Steven niemals gesagt. Hier hatte sie es vor sich: Ein und dasselbe genetische Material, das sich in zwei völlig verschiedene Individuen verwandelt hatte - das eine ein charmanter Jurastudent, das andere ein Psychopath. Aber war der Unterschied bloß oberflächlich.
    Robinson, der Wärter, sagte ruhig, aber bestimmt: »Benimm dich und sei freundlich, Pinker, sonst kriegst du mächtig Ärger.«
    Wieder erschien das jungenhafte Grinsen auf Dennis’ Gesicht, doch seine Worte waren erschreckend. »Robinson wird’s nicht mal merken, wenn es passiert, aber du«, sagte er zu Jeannie. »Wenn du hier rausgehst, wird der Wind dir den nackten Hintern streicheln.«
    Jeannie zwang sich, Ruhe zu bewahren. Was Dennis von sich gab, waren leere Worte. Sie war stark, clever und verstand sich zu wehren: Würde Dennis sie angreifen, bekäme er selbst dann Schwierigkeiten, wäre er mit ihr allein im Zimmer. Daß ein großer, kräftiger Gefängniswärter neben ihr stand, mit einem Revolver und einem Gummiknüppel bewaffnet, gab Jeannie das Gefühl, vollkommen sicher zu sein.
    »Alles in Ordnung?« fragte sie Lisa mit leiser Stimme.
    Lisa war bleich, doch sie hatte die Lippen zu einem dünnen, entschlossenen Strich zusammengepreßt. »Alles klar«, erwiderte sie mit Trotz in der Stimme.
    Wie seine Eltern hatte auch Dennis im voraus mehrere Formulare ausgefüllt. Jetzt begann Lisa mit den komplizierteren Fragebogen, die nicht durch ein bloßes Kreuz in einem Kästchen beantwortet werden konnten. Während Lisa sich mit Dennis befaßte, schaute Jeannie sich die Ergebnisse an und verglich Dennis mit Steven. Die Ähnlichkeiten waren frappierend: psychologisches Profil, Interessen und Hobbys,
    Geschmack, physische Fähigkeiten - bei allem gab es keinerlei Unterschiede.
    Dennis besaß sogar den gleichen überaus hohen IQ wie Steven.
    Was für eine Schande, dachte Jeannie. Dieser junge Mann hätte Wissenschaftler werden können, Chirurg, Ingenieur, Software-Entwickler. Statt dessen vegetiert er in diesem Gefängnis.
    Der große Unterschied zwischen Dennis und Steven lag in der gesellschaftlichen Anpassung. Steven war ein erwachsener Mann mit überdurchschnittlichen sozialen Fähigkeiten, dem es leicht fiel, Kontakt zu Fremden zu finden, der bereit war, rechtmäßige Autoritäten zu akzeptieren, der ungezwungen mit Freunden umgehen konnte und der gern Teil einer Mannschaft war. Dennis hingegen besaß die soziale Kompetenz eines Dreijährigen. Er nahm sich, was er wollte; es fiel ihm schwer, mit anderen zu teilen; er hatte Angst vor Fremden, und wenn er seinen Willen nicht durchsetzen konnte, verlor er die Beherrschung und wurde gewalttätig.
    Jeannie konnte sich an eine Situation entsinnen, als sie drei Jahre alt gewesen war. Es war ihre früheste Erinnerung. Sie sah sich selbst, wie sie sich über das Kinderbett beugte, in dem ihre kleine Schwester lag und schlief. Patty hatte einen hübschen rosa Kinderpyjama getragen; auf dem Kragen waren blaßblaue Blumen eingestickt. Jeannie konnte noch immer den Haß spüren, der Besitz von ihr ergriffen hatte, als sie in Pattys winziges Gesicht starrte. Patty hatte ihr Mommy und Daddy weggenommen, und Jeannie wollte aus tiefstem Herzen diesen Eindringling töten, der ihr so viel von der Liebe und Aufmerksamkeit gestohlen hatte, die bis dahin ihr allein vorbehalten waren. Tante Rosa hatte gefragt: »Du hast dein Schwesterchen sehr lieb, nicht wahr?«, und Jeannie hatte erwidert: »Ich mag sie nicht. Sie soll totgehen.« Worauf Tante Rosa ihr eine Ohrfeige verpaßt hatte und Jeannie sich doppelt mißhandelt fühlte.
    Jeannie war erwachsen geworden, und ebenso Steven. Dennis jedoch nicht.
    Weshalb waren Steven und Dennis so vollkommen anders? Hatte die Erziehung Steven davor bewahrt, so wie sein Zwillingsbruder zu werden? Oder schien er nur anders zu sein? War sein Sozial-verhalten nur eine Maske, unter der sich ein Psychopath wie Dennis verbarg?
    Als Jeannie beobachtete und zuhörte, erkannte sie, daß es noch einen weiteren Unterschied gab: Sie fürchtete sich vor Dennis. Den genauen Grund dafür konnte sie selbst nicht nennen, doch dieser junge Mann strahlte irgend etwas Unheilvolles, Bedrohliches aus. Jeannie hatte das Gefühl, daß Dennis alles tun würde, was ihm in den Sinn kam, ungeachtet der Konsequenzen. Bei Steven hatte Jeannie nicht einen Augenblick dieses

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