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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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ihm zu reden. Sie könnten ihm doch nicht weismachen, schrie er, daß alles normal verläuft! Woher sie das denn wissen wollten! Sie liege im Sterben, es reiße sie in Stücke – das höre man ja! Das sei doch ungeheuerlich – das dürfe man nicht zulassen – da müsse es doch irgendeine Hilfe geben! Hätten sie denn versucht, einen Arzt zu kriegen? Bezahlen könne man ihn ja später. Sie hätten ihm versprechen können ...
    »Das konnten wir eben nicht, Jurgis«, warf Marija ein. »Wir haben kein Geld – nicht mal zum Leben.«
    »Aber ich kann doch arbeiten«, rief Jurgis, »kann welches verdienen!«
    »Gewiß«, antwortete sie, »doch wir dachten, du wärst noch im Gefängnis. Woher sollten wir wissen, an welchem Tag genau du rauskommst? Und für umsonst macht’s keiner.«
    Marija erzählte ihm, wie sie versucht habe, eine Hebamme zu bekommen, daß die aber alle zehn, fünfzehn, ja sogar fünfundzwanzig Dollar verlangt hätten, und das gleich auf die Hand. »Und ich hatte bloß noch einen Vierteldollar«, sagte sie. »Mein Geld ist bis auf den letzten Cent draufgegangen, alles, was ich auf der Bank hatte. Obendrein habe ich Schulden bei dem Doktor, der mich behandelt hat, und nun kommt er nicht mehr, weil er denkt, ich will ihn nicht bezahlen. Und bei Aniele sind wir schon zwei Wochen mit der Miete im Rückstand; dabei ist sie selber am Verhungern und befürchtet, aus der Wohnung rausgesetzt zu werden. Wir haben uns mit Borgen und Betteln durchgeschlagen. Wir können einfach nichts mehr tun ...«
    »Und die Kinder?« rief Jurgis.
    »Die sind in der Stadt geblieben, schon den dritten Tag, weil das Wetter so schlecht ist. Sie können ja nichts wissen, – es ist ganz plötzlich gekommen, zwei Monate vor der Zeit.«
    Jurgis stand am Tisch und klammerte sich mit beiden Händen daran fest. Sein Kopf sank herab, und seine Arme zitterten; es sah aus, als würde er jeden Augenblick zusammenklappen.
    Plötzlich erhob sich Aniele und kam zu ihm herangehumpelt. Sie kramte in ihrer Rocktasche und zog einen schmutzigen Lappen heraus, in den sie etwas eingeknotet hatte. »Palauk, Jurgis«, sagte sie. »Ein bißchen Geld hab ich noch. Hier!« Sie wickelte es aus und zählte es vor: vierunddreißig Cent. »Geh du jetzt und versuch selber, jemand zu kriegen. Vielleicht können die andern hier auch was beisteuern. Gebt ihm, was euch möglich ist, er wird es euch schon mal zurückzahlen, und es ist gut für ihn, wenn er jetzt was zu tun hat, ob er nun etwas erreicht oder nicht. Kommt er dann zurück, ist vielleicht schon alles vorbei.«
    Und so entleerten auch die anderen Frauen ihre Geldbörsen; die meisten enthielten keine größeren Münzen als Fünf-Cent-Stücke, aber sie gaben alles. Mrs. Olszewski, die nebenan wohnte und deren Mann gelernter Rinderschlächter war, aber trank, spendete fast einen halben Dollar, so daß im ganzen eineinviertel Dollar zusammenkamen.
    Jurgis steckte das Geld in die Tasche, und es selbst darin noch mit der Faust umklammernd, rannte er los.

19
    »M ADAME H AUPT • H EBAMME « stand auf dem Schild, das von einem Fenster über einer Kneipe in der Avenue herabhing; an einer Seitentür befand sich ein weiteres Schild mit einer Hand, die eine schmutzige Treppe hinaufwies. Jurgis nahm immer drei Schritte auf einmal.
    Madame Haupt briet Schweinefleisch mit Zwiebeln und hatte ihre Tür halb offen, um den Dunst abziehen zu lassen. Als Jurgis anzuklopfen versuchte, ging die Tür ganz auf, und er erhaschte einen Blick auf die Hebamme, wie sie gerade eine schwarze Flasche an die Lippen setzte. Dann klopfte er lauter, woraufhin sie erschrak und die Flasche rasch wegstellte. Sie war eine überaus dicke Deutsche; beim Gehen schaukelte sie wie ein kleines Boot auf Meereswellen und brachte das Geschirr im Küchenschrank zum Klirren. Der blaue Morgenrock, den sie trug, starrte vor Schmutz, und ihre Zähne waren schwarz.
    »Was wollen Sie?« fragte sie, als sie Jurgis sah.
    Er war den ganzen Weg gerannt und hatte jetzt so wenig Luft, daß er kaum sprechen konnte. Seine Stoppelhaare standen wirr durcheinander, seine Augen flackerten – er sah aus wie soeben dem Grabe entstiegen. »Meine Frau!« keuchte er. »Kommen Sie schnell!«
    Madame Haupt setzte die Bratpfanne zur Seite und wischte sich die Hände am Morgenmantel ab. »Sie haben also eine Entbindung für mich?«
    »Ja.«
    »Ich bin eben erst von einer zurück«, sagte sie. »Habe noch nicht einmal Zeit zum Essen gehabt. Aber wenn es so pressiert ...«
    Ihr

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