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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Jurgis eintrat – in Packingtown nennt man alle Ausländer und Hilfsarbeiter »Jack«. »Wo hast denn so lange gesteckt?«
    »Im Kittchen«, sagte Jurgis und ging gleich zur Theke. »Bin heute erst raus. Mußte den ganzen Weg zu Fuß gehen. Ich bin restlos blank und habe seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Mein Haus bin ich auch los, und meine Frau ist krank. Ich bin völlig am Ende.«
    Der Wirt musterte ihn, sein eingefallenes bleiches Gesicht und die bebenden blauen Lippen. Dann schob er ihm eine Flasche hin. »Gieß dir einen ein!«
    Jurgis zitterten die Hände so, daß er die Flasche kaum halten konnte.
    »Nur nicht schüchtern«, sagte der Kneipier. »Gieß ruhig voll.«
    Jurgis trank ein großes Glas Whiskey und ging dann zum Büfett mit den Imbissen, wozu der andere ihn ermuntert hatte. Er aß, so viel er sich getraute, stopfte es hinein, so schnell er konnte, und nachdem er seinen Dank gestammelt hatte, setzte er sich an den großen rotglühenden Ofen in der Mitte der Gaststube.
    Doch wie mit allem in dieser harten Welt – es war zu schön, um lange anhalten zu können. Seine durchnäßte Kleidung begann zu dampfen, und der schreckliche Düngergestank breitete sich im Raum aus. In etwa einer Stunde machten die Fabriken Feierabend, und dann würden die Männer in die Kneipen strömen, aber natürlich nicht in eine gehen, wo es nach Jurgis roch. Außerdem war es Samstagabend, und in ein paar Stunden kamen ein Geiger und ein Kornettspieler, und im hinteren Teil des Lokals würden Familien aus der Nachbarschaft ein Tänzchen machen und bei Wiener Würstchen und Lagerbier bis zwei oder drei Uhr fröhlich sein wollen. Der Kneipier hüstelte ein paarmal und sagte dann: »Tut mir leid, Jack, aber jetzt mußt du dich verziehen.«
    Er war den Anblick von Gestrandeten gewohnt; jeden Tag warf er Dutzende von ihnen aus seiner Kneipe hinaus, die genauso durchgefroren und elend aussahen wie Jurgis. Doch waren das alles Männer, die die Waffen bereits gestreckt hatten und sich gehenließen; aber der hier kämpfte noch immer und wirkte irgendwie anständig. Als Jurgis ergeben aufstand, überlegte der Wirt bei sich, daß er ja immer solide gewesen sei und bald wieder ein guter Kunde werden könnte. »Ich seh, du hast ‘ne schlechte Strähne«, sagte er. »Komm mal mit.«
    In der hintersten Ecke der Kneipe befand sich eine Treppe zum Keller. Sie hatte oben und unten eine mit Vorhängeschloß gesicherte Tür, so daß sich dort wunderbar jemand verstauen ließ – ein Gast, der noch Chancen hatte, wieder zu Geld zu kommen, oder einer, der in der Politik war und den mit einem Fußtritt hinauszubefördern nicht ratsam schien.
    Dort verbrachte Jurgis die Nacht. Der Whiskey hatte ihn halb aufgewärmt, und er konnte nicht schlafen, so erschöpft er auch war; er nickte nur immer wieder ein, sackte dabei vornüber, fuhr dann erschreckt hoch und begann, vor Kälte zitternd, wieder seinen Gedanken nachzuhängen. Stunde um Stunde verging, und lediglich an den aus der Kneipe herunterdringenden Klängen von Musik, Gesang und Gelächter merkte er, daß es noch nicht Morgen war. Als sie endlich verstummten, wartete er, hinaus auf die Straße gesetzt zu werden, und als das nicht geschah, begann er sich zu fragen, ob der Wirt ihn womöglich vergessen habe.
    Schließlich konnte er die Stille und Ungewißheit nicht länger ertragen. Er stand auf und hämmerte gegen die Tür. Der Kneipier kam, gähnend und sich die Augen reibend. Er hatte die ganze Nacht durch offen und hielt zwischendurch, wenn keine Gäste da waren, ein Nickerchen.
    »Ich möchte nach Hause gehen«, sagte Jurgis. »Ich mach mir Sorgen wegen meiner Frau – ich halte das Warten nicht mehr aus.«
    »Warum hast denn das nicht gleich gesagt?« reagierte der Wirt ärgerlich. »Ich dachte, du hättest keine Bleibe.«
    Jurgis ging hinaus. Es war vier Uhr früh und noch finstere Nacht. Frischer Schnee bedeckte handbreithoch den Boden, und die Flocken fielen dicht und rasch. Jurgis trabte los in Richtung Anieles Haus.
    Im Küchenfenster brannte hinter zugezogenen Vorhängen Licht. Die Haustür war nicht abgeschlossen, und Jurgis stürmte hinein.
    Aniele, Marija und die anderen Frauen hockten um den Herd, noch genauso wie gestern; Jurgis bemerkte, daß sich ein paar weitere hinzugesellt hatten – und daß es ganz still im Haus war.
    »Nun?« sagte er.
    Niemand antwortete ihm; sie starrten ihn nur mit ihren bleichen Gesichtern an.
    »Nun?« wiederholte Jurgis lauter.
    Und dann sah er

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