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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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irgendwo drinnen war plötzlich ein Schrei gekommen, ein gellender Schmerzensschrei. Und die Stimme gehörte Ona.
    Einen Augenblick stand Jurgis vor Furcht wie gelähmt da, dann stürmte er an Aniele vorbei ins Haus.
    Der erste Raum war die Küche, und dort kauerte um den Herd ein halbes Dutzend Frauen, blaß und verängstigt. Eine von ihnen sprang auf, als Jurgis hereinkam; sie sah abgehärmt, ja erschreckend dünn aus und hatte um die eine Hand einen dicken Verband – Jurgis erkannte Marija kaum. Als erstes suchte er Ona, und da er sie nirgends sah, blickte er die Frauen an und wartete, daß sie etwas sagten. Doch sie saßen stumm da, starrten ihn in panischem Schrecken an. Eine Sekunde später ertönte abermals ein durchdringender Schrei.
    Er kam vom rückwärtigen Ende des Hauses, und zwar von oben. Jurgis sprang auf eine Tür zu und riß sie auf. Eine Leiter führte durch eine Klappe hinauf zum Dachboden und er hatte bereits den Fuß auf der untersten Sprosse, als er hinter sich eine Stimme hörte und sah, daß Marija ihm nachgekommen war.
    Mit ihrer heilen Hand zog sie ihn am Ärmel und sagte: »Nein, nicht, Jurgis, bleib hier!«
    »Was ist denn?« keuchte er.
    »Du darfst da nicht rauf!«
    Jurgis war vor Bestürzung und Angst halb von Sinnen. »Was ist mit ihr?«
    Sie hielt ihn fest. Oben hörte er Ona schluchzen und stöhnen, und ohne Marijas Antwort abzuwarten, wollte er sich losreißen und hinaufklettern. »Nein, nein!« rief sie. »Du kannst jetzt nicht zu ihr, Jurgis. Es ... es ist das Kind!«
    »Das Kind?« wiederholte er verwundert. »Antanas?«
    Flüsternd antwortete Marija: »Nein, das neue.«
    Da knickten Jurgis die Knie ein, und er mußte am Leiterholm Halt suchen. Entgeistert starrte er Marija an. »Das neue!« stieß er hervor. »Aber es ist doch noch zu früh.«
    Marija nickte. »Ich weiß, doch es kommt schon.«
    Da ertönte wieder ein Schrei von Ona und traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht; er fuhr zusammen und wurde kreidebleich. Ihre Stimme erstarb in einem Wimmern – dann hörte er sie schluchzen: »Lieber Gott – laß mich sterben. Laß mich doch sterben!«
    Marija schlang die Arme um ihn und rief: »Komm hier weg!« Sie zog ihn zurück in die Küche, wobei sie ihn stützen mußte, denn er war völlig zusammengebrochen.
    Es war, als wären die Säulen seiner Seele eingestürzt – der Schock hatte ihn umgeworfen. Am ganzen Leibe zitternd, sank er, noch immer von Marija gestützt, auf einen Stuhl, und die Frauen starrten ihn in stummer, hilfloser Furcht an.
    Und dann schrie Ona wieder. Er konnte es hier fast genauso deutlich hören, und er erhob sich taumelnd. »Wie lange geht das schon so?« fragte er.
    »Noch nicht sehr lange«, erwiderte Marija, und auf ein Zeichen von Aniele setzte sie hastig hinzu: »Geh du weg, Jurgis ... Du kannst doch nicht helfen ... Geh und komm später wieder. Es wird schon ... Es ...«
    »Wer ist bei ihr?« unterbrach Jurgis sie. Und als er Marija zögern sah, wiederholte er, lauter und drängender: »Wer ist bei ihr?«
    »Sie ... sie ... Es ist alles in Ordnung. Elzbieta ist bei ihr.«
    »Aber der Arzt!« Er packte Marija beim Arm. »Jemand, der was davon versteht!«
    Sie zitterte, und ihre Stimme war kaum noch ein Flüstern, als sie antwortete: »Wir ... wir haben kein Geld.« Und dann, verängstigt durch seinen Gesichtsausdruck, fügte sie beschwichtigend hinzu: »Es geht schon alles gut, Jurgis. Du verstehst das nicht ... Verschwinde jetzt lieber ... Ach, wärst du doch erst später gekommen!«
    Während sie so auf ihn einredete, hörte Jurgis wieder Ona. Er verlor fast den Verstand. Das alles war neu für ihn, neu und niederschmetternd – hatte ihn unvorbereitet getroffen wie ein Blitz. Während der Geburt des kleinen Antanas war Jurgis arbeiten gewesen und hatte nichts davon mitbekommen, bis es vorbei war, jetzt aber gingen ihm die Nerven durch. Die verängstigten Frauen wußten sich keinen Rat; eine nach der anderen versuchten sie, ihn zu beruhigen, ihm begreiflich zu machen, daß dies nun einmal Frauenlos sei. Am Ende schoben sie ihn hinaus in den Regen, wo er barhäuptig und in wilder Aufregung auf und ab marschierte.
    Da das Schreien bis auf die Straße zu hören war, ging er immer wieder ein Stück weg, um ihm zu entfliehen, kam dann aber doch zurück, weil er nicht anders konnte. Nach einer Viertelstunde stürmte er abermals die Stufen hinauf, und da die Frauen fürchteten, er werde die Tür eintreten, mußten sie ihn einlassen.
    Es war nicht mit

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