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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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hatte er dieses Haus wegen nicht alles ertragen – was hatte die gesamte Familie für Entbehrungen auf sich genommen – was hatten sie für einen Preis bezahlt!
    Er sah die ganze Quälerei wieder vor sich: das Opfer am Anfang, ihre dreihundert Dollar, die sie zusammengekratzt hatten und die alles waren, was sie in der Welt besaßen, alles, was sie vor dem Verhungern schützte; dann die Plackerei, Monat für Monat, um die zwölf Dollar samt den Zinsen aufzubringen, dazu zwischendurch immer wieder die Wassergebühren und sonstigen Abgaben, die Reparaturen und was nicht noch alles. Für diese Zahlungen hatten sie ihre ganze Seele drangegeben, hatten sie mit ihrem Schweiß und ihren Tränen, ja mit ihrem Herzblut geleistet. Dede Antanas war bei dem Kampf um dieses Geld für das Haus draufgegangen – er wäre heute noch am Leben und rüstig, hätte er nicht in Durhams dunklen Kellern arbeiten müssen, um seinen Anteil beisteuern zu können. Und auch Ona hatte ihre Gesundheit und Kraft geopfert – des Hauses wegen war sie jetzt krank und zugrunde gerichtet. Und er selbst ebenfalls, er, der vor drei Jahren noch ein großer, starker Mann gewesen war und der, kleingekriegt und gebrochen, hier nun zitternd saß und weinte wie ein unbeherrschtes Kind. Ach, sie hatten ihr alles eingesetzt, und sie hatten verloren, elend verloren! Sämtliche schon geleisteten Abzahlungen waren verfallen – jeder Cent war hin! Und sie hatten kein Dach mehr über dem Kopf! Sie standen vor dem Nichts, waren hinausgeworfen in die Kälte, dem Verhungern und Erfrieren preisgegeben!
    Jurgis sah jetzt, wie alles gelaufen war, was hier in Wahrheit waltete – sah sich selbst in der langen Kette der Geschehnisse: das Opfer von gierigen Geiern, die ihm die Eingeweide herausgerissen, und von Unmenschen, die ihn gefoltert und dabei noch verhöhnt hatten. O Gott, welch ungeheuerliche Grausamkeit, welch teuflische Bosheit! Er und seine Familie, hilflose Frauen und Kinder, im Kampf ums Überleben ohne Schutz und Wehr, unwissend und elend, wie sie waren – und die Feinde auf der Lauer, blutrünstig auf ihrer Fährte! Schon damals zu Anfang jener verlogene Reklamezettel und dann der glattzüngige, gerissene Makler! Die Falle mit den verschwiegenen Zinsen und Nebenkosten, wofür ihre Einnahmen gar nicht ausreichten und worauf sie sich wissentlich auch niemals eingelassen hätten! Dann all die üblen Schliche der Fabrikanten, ihrer Herren, der Tyrannen, die über sie herrschten: die Stillegungen, das Knapphalten von Stellen, die unregelmäßige Arbeitszeit, das grausame Tempovorlegen, die Lohnsenkungen, die Preissteigerungen! Die Unbarmherzigkeit der Natur rings um sie, mit Hitze und Kälte, Regen und Schnee, die Unbarmherzigkeit der Stadt, des Landes hier, mit Gesetzen und Bräuchen, die sie nicht verstanden! All das wirkte zusammen und arbeitete zugunsten der Häusergesellschaft, die sie zu ihrer Beute auserkoren und auf den günstigen Moment gewartet hatte. Und jetzt, mit dieser letzten horrenden Ungerechtigkeit, war ihre Zeit gekommen; sie hatte sie mit Sack und Pack hinausgesetzt und ihr Haus genommen und es abermals verkauft! Doch sie konnten nichts dagegen unternehmen, ihnen waren Hände und Füße gebunden – das Gesetz war gegen sie, der gesamte Apparat der Justiz stand ihren Unterdrückern zu Gebote! Wenn er, Jurgis, auch nur die Hand gegen sie hob, würde er zurück müssen in den Zwinger, dem er gerade erst entronnen war!
    Aufstehen und weggehen hieß sich geschlagen geben, der fremden Familie das Haus überlassen, und Jurgis wäre vielleicht noch Stunden dort bibbernd im Regen sitzen geblieben, ehe er sich dazu entschlossen hätte, wäre nicht der Gedanke an seine Familie gewesen. Womöglich erwarteten ihn noch schlimmere Nachrichten, und so erhob er sich und ging erschöpft und benommen weiter.
    Bis zu Ponia Anieles Haus, weit hinter den Yards, waren es gut zwei Meilen; nie war Jurgis der Weg so lang vorgekommen, und als er das vertraute schmutziggraue und schäbige Haus erblickte, schlug ihm das Herz schneller. Er rannte die Stufen hinauf und bummerte gegen die Tür.
    Aniele kam selber öffnen. Seit Jurgis sie das letzte Mal gesehen hatte, ging sie vor lauter Rheuma noch gekrümmter, und ihr gelbes Pergamentgesicht schaute von knapp oberhalb des Türknaufs zu ihm empor. Sie erschrak, als sie ihn sah.
    »Ist Ona hier?« rief er atemlos.
    »Ja, ist sie.«
    »Wie ...« begann Jurgis, stockte dann aber und griff krampfhaft nach dem Türpfosten. Von

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