Der Dschungel
er längst abgelegt aber da sind die Leute, und so geduldet er sich noch, wobei er die Tür beobachtet, denn es ist eine Droschke bestellt. Aber die kommt und kommt nicht, und schließlich mag er nicht länger warten, sondern geht hin zu Ona, die blaß wird und zittert. Er legt ihr ihr Umschlagtuch um und dann noch seine Jacke. Sie wohnen nur zwei Straßen weiter, und er pfeift auf die Droschke.
Es gibt so gut wie keine Verabschiedung – die Tanzenden merken gar nicht, daß das Brautpaar geht, und allen Kindern sowie vielen der älteren Leute sind vor Erschöpfung schon lange die Augen zugefallen. Dede Antanas schläft fest und ebenso das Ehepaar Szedvilas; Jokubas schnarcht in allen Tonarten. Teta Elzbieta und Marija schluchzen laut, und dann ist um Jurgis und Ona her nur noch die stille Nacht mit im Osten bereits etwas verblassenden Sternen. Ohne ein Wort nimmt er Ona auf seine Arme und schreitet mit ihr los; mit einem Seufzer lehnt sie den Kopf an seine Schulter. Als er vor ihrer Haustür ankommt, weiß er nicht recht, ob sie ohnmächtig ist oder nur schläft, und als er sie mit einer Hand halten muß, während er aufschließt, sieht er, daß sie die Augen aufgeschlagen hat.
»Du gehst heute nicht arbeiten, Kleines«, flüstert er, und sie greift seinen Arm und stößt hervor: »Nein, nein, das wag ich nicht! Es wäre unser Ruin!«
Doch er erwidert ihr abermals: »Laß das meine Sorge sein. Ich schaff das Geld schon ran – werde eben mehr arbeiten.«
2
Mehr arbeiten – Jurgis konnte das leicht sagen, denn er war jung. Man erzählte ihm Geschichten von Männern, die in den Yards von Chicago kaputtgegangen waren, Geschichten, bei denen es einem kalt über den Rücken lief, aber Jurgis lachte nur. Er arbeitete ja noch kein halbes Jahr hier, außerdem war er ein Kerl wie ein Schrank und strotzte nur so vor Gesundheit. Daß es auch ihm einmal so ergehen könnte, überstieg sein Vorstellungsvermögen. »Hämlingen wie euch mag das vielleicht passieren«, pflegte er zu sagen, »aber mein Kreuz ist breit.«
Jurgis war wie ein Junge vom Lande. Er gehörte zu jener Sorte Arbeiter, die die Chefs gern nehmen und wovon es ihren Klagen nach zu wenige gibt. Wurde ihm geheißen, irgendwo hinzugehen, tat er das im Laufschritt; hatte er einen Augenblick mal nichts zu tun, stand er da und zappelte vor überschüssiger Energie. Arbeitete er in einer Kolonne, war ihm das Tempo stets zu langsam, und man erkannte ihn an seiner Ungeduld und Rastlosigkeit heraus. Eben deshalb war im entscheidenden Augenblick die Wahl auf ihn gefallen: Jurgis hatte kaum eine halbe Stunde vor der Zeitkontrolle von Brown & Co. gestanden, als er auch schon von einem Meister herangewinkt wurde – und das an seinem erst zweiten Tag in Chicago! Darauf war er sehr stolz, und es machte ihn geneigter denn je, über die Pessimisten zu lachen. Vergebens erzählten ihm alle, daß in der Menge, aus der man ihn herausgepickt hatte, Männer gewesen seien, die dort schon einen oder gar mehrere Monate gestanden und noch immer keine Chance bekommen hatten. »Ja«, sagte er dann, »aber was für Männer? Runtergekommene Kerle, Rumtreiber und Taugenichtse, Schnapsbrüder, denen es bloß um neues Geld zum Saufen geht. Ihr wollt mir doch nicht weismachen, daß man mich mit diesen Armen« – er hob sie hoch, machte Fäuste und ließ seine Muskeln spielen – »daß man mich mit diesen Armen jemals verhungern läßt?«
»Man merkt«, antworteten sie ihm, »du kommst aus dem tiefsten Hinterwald.« Und das entsprach auch den Tatsachen, hatte doch Jurgis, bevor er ausgezogen war, sein Glück in der Welt zu machen und sich seine Ona zu verdienen, noch nie eine Großstadt, ja kaum einmal eine Provinzstadt gesehen. Sein Vater und vor ihm dessen Vater, überhaupt alle seine Vorfahren hatten in jenem einsamen Landstrich Litauens gelebt, der Bieloviecz heißt. Das ist ein an die fünfhundert Quadratmeilen großes Wäldermassiv, das seit unvordenklichen Zeiten dem Hochadel als Jagdrevier dient, und es hat darin immer nur sehr wenige und kraft altangestammter Rechte dort siedelnde Bauern gegeben. Zu diesen gehörte Antanas Rudkus, der auf zehn Morgen gerodetem Land inmitten einer Wildnis aufgewachsen war und dort auch seine Kinder großgezogen hatte. Neben Jurgis gab es noch einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn war zum Militär geholt worden; das lag nun schon über zehn Jahre zurück, doch hatte man seitdem nie wieder etwas von ihm gehört. Die Tochter war verheiratet, und ihr
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