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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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durchdringender Geruch. Sie wußten nicht recht, ob sie ihn unangenehm empfanden; mancher hätte ihn vielleicht als widerlich bezeichnet, ihr Geruchssinn aber war nicht sehr kultiviert, und so registrierten sie ihn lediglich als eigenartig. Jetzt hier in der Straßenbahn ging ihnen auf, daß sie sich dorthin bewegten, wo dieser Rauch herkam – daß sie ihm die ganze weite Reise von Litauen her entgegengefahren waren. Er lag nicht länger in der Ferne, war nicht mehr schwach und bloß in gelegentlichen Schwaden wahrnehmbar; man konnte ihn genauso schmecken wie riechen, ihn förmlich mit Händen packen und in Ruhe untersuchen. Ihre Meinungen gingen auseinander. Es war ein elementarer, uriger, unkünstlicher Geruch, stark und streng, ein bißchen wie von nicht mehr ganz frischem Fleisch. Manche sogen ihn ein wie etwas Berauschendes, andere preßten sich ein Taschentuch vor die Nase. Unsere Ankömmlinge waren noch beim Schnuppern und Staunen, als die Straßenbahn plötzlich hielt, die Tür aufgerissen wurde und eine Stimme rief: »Stockyards!«
    Verloren standen sie an der Ecke und starrten in die Runde. Eine Seitenstraße gewährte zwischen ihren beidseitigen Ziegelhauszeilen den Durchblick auf ein halbes Dutzend Fabrikschlote, die schier bis in den Himmel ragten und aus denen ebenso viele Rauchsäulen aufstiegen. Dicht, schmierig und schwarz wie die Nacht, hätte dieser Rauch direkt aus dem Kern der Erde kommen können, wo noch das Urfeuer schwelt. Er brach wie aus eigener Kraft hervor, alles vor sich hertreibend, eine fortwährende Eruption; man schaute und wartete, daß er irgendwann mal ein Ende nehme, doch es quollen immer neue Massen heraus. Hoch oben dehnten und bauchten sie sich zu breiten Wolken aus und vereinigten sich dann zu einem einzigen riesigen Strom, der am Himmel dahinfloß und ihn verdüsterte, so weit das Auge reichte.
    Dann fiel der Gruppe noch etwas anderes Merkwürdiges auf, das ebenso wie der Geruch elementar war: ein die Luft erfüllendes Geräusch, das sich aus zehntausend kleinen Geräuschen zusammensetzte. Anfangs wurde man seiner kaum gewahr, denn es sickerte nur als vage Störung, als unbestimmbare Unregelmäßigkeit ins Bewußtsein, so wie etwa das Summen der Bienen im Frühling oder das Raunen des Waldes; es ließ rastloses Treiben ahnen, das dumpfe Rumpeln einer regen Welt. Nur mit Mühe konnte man erkennen, das es von Tieren herrührte, daß es sich um das ferne Muhen und Brüllen von zehntausend Rindern, um das ferne Grunzen und Quieken von zehntausend Schweinen handelte.
    Sie wären dem gern nachgegangen, doch für Abenteuer hatten sie jetzt leider keine Zeit. Der Polizist an der Ecke beobachtete sie bereits, und so setzten sie sich wie gewohnt in Bewegung. Sie waren noch nicht bis zur nächsten Straße gekommen, als Jonas plötzlich einen Schrei ausstieß und aufgeregt auf die andere Seite zeigte. Noch ehe sie sich überlegen konnten, was seine atemlosen Ausrufe bedeuten mochten, war er schon hinübergerannt, und sie sahen ihn in einen Laden verschwinden, über dem ein Schild mit der Aufschrift »J. S ZEDVILAS • F EINKOST & I MBISSE « hing. Als er wieder herauskam, war es in Begleitung eines sehr beleibten Herrn in Hemdsärmeln und mit vorgebundener Schürze, der Jonas bei den Händen hielt und vergnügt lachte. Da erinnerte sich Teta Elzbieta, daß Szedvilas ja jener legendäre Bekannte hieß, der es in Amerika zu Wohlstand gebracht hatte. Und daß dies, wie sich jetzt herausstellte, in der Lebensmittelbranche geschehen war, traf sich im Augenblick besonders günstig, denn obwohl der Vormittag bereits weit vorgerückt war, hatten sie noch nicht gefrühstückt, und die Kinder quengelten schon.
    So waren sie nach beschwerlicher Reise endlich glücklich angelangt. Die beiden Familien fielen einander um den Hals – seit Jahren hatte Jokubas Szedvilas niemanden mehr aus seiner Gegend von Litauen getroffen. Noch ehe der Tag halb um war, wurden sie Freunde fürs Leben. Jokubas kannte all die Tücken dieser neuen Welt und konnte all ihre Geheimnisse erklären; er wußte, was sie in den diversen Bedrängnissen hätten tun müssen – und was noch wichtiger war, er konnte ihnen sagen, was sie jetzt tun mußten. Er werde sie zu Ponia Aniele bringen, schlug er vor, zu Mrs. Jukniene, die auf der anderen Seite der Yards ein Logierhaus habe. Das sei zwar nicht gerade ein Luxushotel, aber fürs erste genüge es ihnen vielleicht. Worauf Teta Elzbieta sich zu erwidern beeilte, im Augenblick

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