Der Dschungel
Kusine von Ona. Marija war Vollwaise und hatte von Kindheit an bei einem reichen Bauern in der Gegend von Wilna in Dienst gestanden, der sie regelmäßig schlug. Erst mit zwanzig war ihr eingekommen, ihre Kraft zu gebrauchen; sie hatte sich gewehrt, den Kerl halbtot geschlagen und war dann fortgelaufen.
Insgesamt waren sie zu zwölft: fünf Erwachsene, sechs Kinder – und die kleine Ona, die noch nicht recht in die erste, aber auch nicht mehr in die zweite Kategorie gehörte. Die Überfahrt war alles andere als vergnüglich. Kurz vor ihrem Antritt hatten sie kräftig bluten müssen: Der ihnen behilflich gewesene Auswanderungsagent stellte sich als Gauner heraus und brachte sie in heimlicher Zusammenarbeit mit ein paar Beamten um einen beträchtlichen Teil ihres kostbaren und ängstlich gehüteten Geldes. Ähnliches passierte ihnen nach der Ankunft in New York – sie wußten ja nichts über das Land, wurden von niemandem aufgeklärt, und so hatte ein Mann in blauer Uniform leichtes Spiel, sie zu einem Hotel zu lotsen, dort festzuhalten und ihnen ungeheuerliche Summen abzuknöpfen, ehe sie es wieder verlassen durften. Laut Vorschrift muß die Zimmerpreisliste deutlich sichtbar aushängen – aber nicht in litauisch abgefaßt sein.
Zu seinem Reichtum war der Bekannte von Jonas in den »Union Stockyards« gekommen, den – meist nur »Yards« genannten – Vieh- und Schlachthöfen von Chicago, und so hatten auch unsere Litauer jene Stadt zum Ziel. Sie beherrschten bloß dieses eine Wort, »Chicago«, und das hatte genügt, jedenfalls bis sie ihren Bestimmungsort erreichten. Dort aber waren sie dann, nachdem man sie kurzerhand aus dem Zug gescheucht hatte, nicht besser dran als zuvor. Sie standen vorm Bahnhof Dearborn Street und starrten die gleichnamige lange Straße mit ihren in der Ferne aufragenden großen schwarzen Gebäuden hinunter, ohne zu begreifen, daß sie bereits angelangt waren und warum die Leute, wenn sie nach »Chicago« fragten, nicht mehr in irgendeine Richtung wiesen, sondern verständnislos dreinschauten, lachten oder weitergingen, ohne überhaupt hinzuhören. Sie waren nur noch ein Häufchen Hilflosigkeit. Vor allem hatten sie Todesangst vor jedem, der irgendeine Uniform trug; wann immer sie einen Polizisten sahen, liefen sie auf die andere Straßenseite hinüber und hasteten aus seinem Blickfeld hinaus. Den ganzen Tag irrten sie inmitten ohrenbetäubenden Lärms umher, und erst am späten Abend, als sie sich im Torweg eines Hauses hingekauert hatten, wurden sie schließlich von einem Schutzmann entdeckt und mit zur Wache genommen. Am Morgen holte man einen Dolmetscher; sie wurden in eine Straßenbahn gesetzt und bekamen ein neues Wort beigebracht: »Stockyards«. Als sie merkten, daß sie dieses Abenteuer überstehen würden, ohne wieder gerupft zu werden, war ihre Freude unbeschreiblich.
Sie saßen da und schauten zum Fenster hinaus. Die Straße, die sie entlangfuhren, schien überhaupt kein Ende zu nehmen, zog sich Meile um Meile hin – insgesamt vierunddreißig, hätte man ihnen sagen können –, und jede Seite von ihr bestand aus einer ununterbrochenen Zeile einstöckiger Holzhäuser. Die Querstraßen, in die sie hineinblicken konnten, boten das gleiche Bild: nirgends ein Hügel, nirgends eine Senke, überall nur diese häßlichen und schmutzigen kleinen Reihenhäuser. Ab und an ging eine Brücke über einen trüben Fluß, dessen verkrustete Schlammufer von schäbigen Schuppen und Anlegestellen gesäumt waren; ein paarmal kreuzten Eisenbahnüberführungen die Straße und fuhren über ein Gewirr von Weichen puffende Lokomotiven und lange Ketten ratternder Güterwagen vorbei; hier und da stand eine große Fabrik, ein unansehnlicher Kasten mit zahllosen Fenstern und hohen Schornsteinen, aus denen gewaltige Mengen Rauch strömten und oben den Himmel verfinsterten und unten die Erde verschmutzten. Aber nach jeder dieser Unterbrechungen setzten sich wieder die monotonen Reihen trostloser kleiner Häuser fort.
Schon über eine Stunde vor Erreichen der Stadt waren unseren Freunden Veränderungen in der Luft aufgefallen, die sie sich nicht erklären konnten. Es wurde immer dunkler, und das Gras am Boden schien zunehmend sein Grün zu verlieren. Mit jeder Minute, die der Zug dahinbrauste, wurden die Farben trüber; die Felder waren ausgedorrt und graugelb, die Landschaft wirkte kahl und häßlich. Zusammen mit dem dichter werdenden Rauch machte sich noch etwas anderes bemerkbar: ein seltsamer,
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