Der Dschungel
der Spender dazu bereit gewesen?
Man müßte meinen, daß der arme Jurgis einen erfolgreichen Bettler abgab. Er kam ja gerade erst aus dem Krankenhaus, sah furchtbar elend aus und trug den einen Arm in der Schlinge; außerdem hatte er keinen Mantel und zitterte jämmerlich vor Kälte. Aber ach, es erging ihm wie dem ehrlichen Kaufmann, der feststellen muß, daß die echte und unverfälschte Ware von der raffinierten Nachahmung an die Wand gedrückt wird! Als Bettler war Jurgis bloß ein stümperhafter Amateur im Konkurrenzkampf mit organisierten und fachkundig arbeitenden Professionellen. Er war erst ein paar Tage aus dem Krankenhaus heraus aber diese Geschichte war abgedroschen, und wie hätte er sie beweisen können? Er trug den Arm in der Schlinge – eine Aufmachung, die eines regulären Bettlers kleiner Sohn als unter seiner Würde empfunden hätte. Er war blaß und bibberte – aber die anderen waren mit Schminke hergerichtet und hatten das Zähneklappern eingeübt. Daß er ohne Mantel war – nun, man konnte unter ihnen Leute antreffen, bei denen man geschworen hätte, daß sie nichts weiter anhaben als eine fadenscheinige Sommerjacke und dünne Baumwollhosen – so kunstgerecht hatten sie die mehreren Garnituren reinwollene Unterwäsche kaschiert, die sie darunter trugen. Viele dieser Berufsbettler hatten ihre Familie, ihr gemütliches Heim und ein vierstelliges Bankkonto; manche hatten sich aus dem aktiven Dienst zurückgezogen und sich darauf verlegt, andere auszustaffieren und zurechtzumachen oder Kinder für sich arbeiten zu lassen. Es gab welche, die hatten beide Arme eng an den Leib geschnürt, sich ausgestopfte Stümpfe in die Ärmel gesteckt und ein krankes Kind angeheuert, das ihnen die Bettelschale trug. Andere hatten keine Beine und bewegten sich auf Brettern mit Rädern voran; wieder andere waren durch Blindsein begünstigt und wurden von hübschen kleinen Hunden geführt. Einige weniger Glückliche hatten Selbstverstümmelung betrieben, hatten sich Brandwunden oder mit Chemikalien grausige Verätzungen beigebracht; es konnte passieren, daß einem auf der Straße plötzlich jemand einen vereiterten und brandig verfärbten Finger entgegenstreckte oder eine Hand mit verrutschtem schmutzigem Verband, aus dem blaurote Wunden hervorschauten. Diese Verzweifelten waren der Bodensatz der Kloaken Chicagos, Elende, die nachts Unterschlupf suchten in den Kellern abbruchreifer Mietshäuser, in denen Regenwasser stand, in Pennerkneipen und Opiumhöhlen, zusammen mit abgewrackten Dirnen, die aus Chinesenpuffs hinausgesetzt worden waren zum Krepieren. Jeden Tag fischte das Schleppnetz der Polizei Hunderte von ihnen von den Straßen, und in der Verwahrungsanstalt konnte man sie sehen, zusammengepfercht in einem Inferno en miniature, mit häßlichen, tierischen Gesichtern, aufgedunsen und von venerischen Krankheiten gezeichnet, lachend, schreiend, kreischend in allen Stadien der Trunkenheit, wie Hunde kläffend, schnatternd wie Affen, im Delirium tobend und sich selbst zerfleischend.
24
Trotz all seiner Behinderungen mußte Jurgis, wenn er nicht erfrieren wollte, soviel Geld zusammenbetteln, daß er jede Nacht ein Schlafquartier und alle ein bis zwei Stunden einen Schnaps bezahlen konnte. Tag für Tag war er in der arktischen Kälte unterwegs, das Herz voller Bitterkeit und Verzweiflung. Er sah die zivilisierte Welt jetzt klarer als je zuvor: eine Welt, in der nur brutale Macht zählte, eine Ordnung, die sich die Besitzenden zur Unterdrückung der Besitzlosen erdacht hatten. Er gehörte zu den letzteren, und alles ringsum, das ganze Leben war für ihn ein einziger Käfig, in dem er auf und ab lief wie ein gefangener Tiger, der es an einem Gitterstab nach dem anderen versucht, sie aber sämtlich für seine Kräfte zu stark findet. Da er sich in der grimmigen Habgierschlacht nicht hatte halten können, war er dazu verdammt, vernichtet zu werden, und die ganze Gesellschaft paßte auf, daß er seinem Urteil nicht entging. Wohin er sich auch wandte, waren Kerkergitter, und überallhin folgten ihm feindselige Augen. Die wohlgenährten und geschniegelten Polizisten schienen ihre Knüppel fester zu packen, wenn sie ihn sahen; die Kneipenwirte ließen ihn keine Sekunde unbeobachtet, wenn er sich in ihren Gaststuben aufhielt, und mißgönnten ihm jede Minute, die er nach dem Bezahlen noch verweilte; die vorübereilenden Menschenmassen auf den Straßen blieben seinen Bitten gegenüber taub, ja nahmen nicht einmal seine
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