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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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eines Abends, als Jurgis mit seiner Kolonne auf dem Weg nach draußen war, aus einer der unzähligen rechtwinklichen Abzweigungen eine Lok mit einer beladenen Lore herausschoß, ihn an der Schulter traf, gegen die Betonwand schleuderte und bewußtlos zu Boden streckte.
    Als er wieder zu sich kam, hörte er die laute Glocke eines Krankenwagens. Er lag, mit einer Decke zugedeckt, in diesem Wagen, und der bahnte sich langsam seinen Weg durch die ihre Weihnachtseinkäufe machende Menschenmenge. Man brachte ihn in ein städtisches Krankenhaus, wo ein junger Chirurg ihm den gebrochenen Arm richtete; dann wurde er gewaschen und auf eine Station zu -zig anderen verletzten und verstümmelten Männern gelegt.
    Hier verbrachte Jurgis das Fest, und es waren die schönsten Weihnachten, die er bisher in Amerika erlebt hatte. Jedes Jahr gab es in diesem Krankenhaus Skandale und Untersuchungen, denn die Zeitungen behaupteten immer wieder, daß die Ärzte ausgefallene Experimente an ihren Patienten vornehmen dürften, aber Jurgis wußte davon nichts – seine einzige Klage war, daß er hier Konservenfleisch essen mußte, mit dem niemand, der je in Packingtown gearbeitet hatte, auch nur seinen Hund gefüttert hätte. Jurgis hatte sich oft gefragt, wer denn eigentlich das Büchsenfleisch aus den Yards esse – jetzt ging es ihm auf: Es wurde an Behörden und Vertragslieferanten verkauft, und essen mußten es Soldaten und Seeleute, Häftlinge und Krankenhauspatienten, Arbeiter in Holzfäller-Camps und Gleisbaukolonnen.
    Nach vierzehn Tagen wurde Jurgis entlassen. Nicht etwa daß sein Arm ausgeheilt gewesen wäre und er wieder hätte arbeiten gehen können, aber er kam jetzt ohne Pflege aus, und sein Bett wurde für wen anders gebraucht, dem es schlechter ging als ihm. Daß er gänzlich hilflos war und nicht die Mittel hatte, sich in der Zwischenzeit durchzubringen, interessierte weder die Krankenhausverwaltung noch sonst jemanden in der Stadt.
    Zufällig war der Unfall an einem Montag passiert, so daß Jurgis gerade erst Essen und Miete für die vergangene Woche bezahlt und dann auch noch fast den ganzen Rest seines Lohnes vom Samstag ausgegeben hatte. Seine gesamte Barschaft waren fünfundsechzig Cent, und anderthalb Dollar standen ihm noch für die Arbeit am Montag zu. Wahrscheinlich hätte er die Gesellschaft belangen und ein Schmerzensgeld bekommen können, aber das wußte er nicht, und ihn darüber aufzuklären, dazu war die Gesellschaft nicht verpflichtet. Er holte sich seinen Restlohn ab und auch sein Werkzeug, das er in einer Pfandleihe für fünfzig Cent versetzte. Danach ging er zu seiner Wirtin; sie hatte seine Schlafstelle inzwischen anderweitig vermietet, und jetzt war für ihn nichts mehr frei. Die Inhaberin seines Kosthauses, die er als nächstes aufsuchte, musterte ihn kritisch und stellte diverse Fragen. Da er bestimmt noch monatelang arbeitsunfähig bleiben würde und er bei ihr nur sechs Wochen Gast gewesen war, entschied sie sehr schnell, daß ihm Kredit zu gewähren zu riskant sei.
    Jurgis stand also, als er hinausging, in jeder Beziehung auf der Straße. Schlimmer konnte seine Lage kaum noch sein: Es war bitterkalt, dichter Schneefall schlug ihm ins Gesicht; er hatte keine Bleibe, keinen Mantel, nur zwei Dollar fünfundsiebzig in der Tasche und die Gewißheit, in den nächsten Monaten nicht einen Cent dazuverdienen zu können. Der Schnee bot ihm jetzt keine Chance auf Arbeit; Jurgis mußte vorbeigehen und zusehen, wie andere munter und kraftvoll schippten – und er trug den linken Arm in der Schlinge! Er konnte auch nicht hoffen, sich mit gelegentlichen Ladearbeiten durchzubringen, ja nicht einmal mit dem Verkaufen von Zeitungen oder dem Tragen von Koffern, denn den Rivalen dabei war er jetzt nicht gewachsen. Als ihm das alles klar wurde, erfaßte ihn unbeschreibliches Entsetzen. Es ging ihm wie einem waidwunden Tier im Wald; er mußte sich unter ungleichen Bedingungen mit seinen Feinden messen. Niemand nahm auf seine Verletzung Rücksicht, niemand fühlte sich bemüßigt, ihm den Kampf auch nur ein wenig zu erleichtern. Selbst wenn er sich aufs Betteln verlegte, war er im Nachteil, wie er noch merken sollte.
    Zu Anfang beherrschte ihn nur ein Gedanke: der schrecklichen Kälte zu entkommen. Er ging in eine Kneipe, in der er früher verkehrt hatte, und trank ein Glas Whiskey, stand dann bibbernd am Feuer und wartete darauf, an die Luft gesetzt zu werden. Nach ungeschriebenem Gesetz erkauft man mit dem Bestellen

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