Der Dschungel
eines Getränks in einem Lokal das Recht, sich so lange dort aufzuhalten, bis man ausgetrunken hat; dann muß man das nächste Glas bestellen oder gehen. Daß Jurgis ein alter Kunde war, gab ihm Anspruch, ein bißchen länger zu verweilen, aber er war ja zwei Wochen weggeblieben und inzwischen sichtlich auf den Hund gekommen. Er konnte zwar bitten und erzählen, was er für Pech gehabt habe, aber erreichen würde er damit wenig; ein Kneipier, der sich durch solche Geschichten rühren läßt, würde an einem Tag wie diesem sein Lokal bald bis zur Tür voller Obdachloser haben.
Also ging Jurgis in eine andere Kneipe und gab abermals fünf Cent aus. Inzwischen war er so hungrig, daß er dem heißen Rindfleischeintopf nicht widerstehen konnte, was seinen Aufenthalt beträchtlich verkürzte. Als er wieder zum Gehen aufgefordert wurde, machte er sich auf zu einer Spelunke im Levee-Viertel, wo er manchmal mit einem Arbeitskollegen, einem rattenäugigen Böhmen, nach Frauen Ausschau gehalten hatte. Jurgis gab sich der eitlen Hoffnung hin, daß man ihn dort als »Aufwärmer« dulden würde. In Kaschemmen erlaubten die Wirte im Winter oft ein, zwei jammervoll aussehenden Fechtbrüdern, die vollgeschneit oder regendurchweicht hereinkommen, sich ans Feuer zu setzen und erbarmungswürdig dreinzuschauen, um Kundschaft anzulocken. Kam dann ein Arbeiter ins Lokal, froh, daß der Arbeitstag um war, bekümmerte es ihn, beim Genießen seines Glases solch einen Anblick vor der Nase zu haben, und so rief er vielleicht: »He, alter Junge, was ist denn? Machst ja ‘n Gesicht wie verhagelte Petersilie.« Dann konnte der andere seine Elendsgeschichte erzählen, und der Arbeiter sagte: »Komm, trink einen mit, dann schaut die Welt gleich anders aus.« So tranken sie zusammen ein Glas, und wenn der Fechtbruder unglücklich genug aussah oder sein Mundwerk gut genug geölt war, auch noch ein zweites; entdeckten sie gar, daß sie aus demselben Land kamen oder in derselben Stadt gelebt oder in derselben Branche gearbeitet hatten, setzten sie sich vielleicht an einen Tisch und klönten ein oder zwei Stunden – und ehe sie es sich versahen, hatte der Wirt einen Dollar eingenommen. So fies das auch erscheinen mag, man konnte es dem Kneipier nicht verargen. Er befand sich in der gleichen Zwangslage wie der Fabrikant, der sein Produkt verfälschen und mit lügnerischen Angaben dafür werben muß. Tut er das nicht, tut es ein anderer; und ein Wirt, der nicht zugleich noch Stadtrat ist, hat wahrscheinlich Schulden bei den großen Brauereien und lebt in ständiger Angst vorm Gerichtsvollzieher.
An diesem Nachmittag war der Bedarf an »Aufwärmern« aber schon gedeckt, und es gab keinen Platz für Jurgis. Insgesamt mußte er sechsmal fünf Cent opfern, um an jenem schrecklichen Tag ein Dach überm Kopf zu haben, und dann wurde es gerade erst dunkel – aber die Polizeiwachen machten nicht vor Mitternacht auf. In der letzten Kneipe war jedoch ein Zapfer, der ihn leiden mochte und ihn an einem Tisch dösen ließ, bis der Wirt zurückkam. Als Jurgis ging, gab er ihm einen Tip: Im nächsten Block sei eine religiöse Sekte, und die halte eine Wiedererweckung ab oder wie sich das nennt, jedenfalls was mit Predigen und Singen, und da würden Hunderte von Obdachlosen hingehen, um sich aufzuwärmen.
Jurgis machte sich sogleich dorthin auf und sah draußen ein Plakat, auf dem stand, Einlaß sei um sieben Uhr dreißig. Darauf lief oder vielmehr rannte er eine Straße weiter, verbarg sich eine Weile in einem Torweg, trabte wieder zurück, und immer so fort, bis die Zeit heran war. Ganz steif vor Kälte und unter Gefahr, sich den Arm erneut zu brechen, kämpfte er sich mit der Menschenmenge nach drinnen und erwischte einen Platz nahe dem großen Ofen.
Um acht Uhr war der Saal so voll, daß sich die Redner hätten geschmeichelt fühlen können; selbst in den Gängen standen bis zur Mitte Leute, und an der Tür war die Menge so kompakt, daß man auf ihr hätte entlanglaufen können. Auf dem Podium sah man drei ältliche Herren in Schwarz und eine junge Dame am Klavier. Zuerst wurde ein frommes Lied gesungen, und dann hielt einer von den dreien, ein großer Hagerer mit glattrasiertem Gesicht und schwarzem Kneifer, eine Ansprache. Jurgis hörte Bruchstücke davon, weil er sich nicht zu schlafen getraute – er wußte, daß er entsetzlich schnarchte, und jetzt hinausgeworfen zu werden wäre ihm wie ein Todesurteil erschienen.
Der Mann predigte von »Sünde und
Weitere Kostenlose Bücher