Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
Erlösung«, von der unendlichen Gnade Gottes und seiner Vergebung menschlicher Schwäche. Es war ihm sehr ernst, und er meinte es gut, aber Jurgis spürte beim Zuhören Haß in sich aufkeimen. Was wußte denn der von Sünde und Leid – der mit seinem gebügelten schwarzen Rock und gestärkten weißen Kragen. Der hatte warme Glieder, einen satten Magen und die Tasche voll Geld und wollte Männern was erzählen, die ums nackte Überleben kämpften, gegen die satanischen Mächte Hunger und Kälte! Natürlich war das ungerecht, aber Jurgis fand, daß diese Leute keine Berührung mit dem Leben hatten, von dem sie redeten, und also auch nicht dessen Probleme zu lösen vermochten; mehr noch, sie waren selbst eines davon – sie waren Teil der bestehenden Ordnung mit ihrer Unterdrückung und Prügelung von Menschen! Sie gehörten zu den immer die Oberhand habenden und anmaßenden Besitzenden; sie hatten ihren Saal und ihren Ofen, es mangelte ihnen nicht an Essen, Kleidung und Geld, und so hatten sie gut predigen vor den Hungrigen, die in Demut zuhören durften! Deren Seelen wollten sie retten – dabei konnte jeder, der auch nur ein bißchen Grips hatte, doch sehen, daß ihren Seelen nichts weiter fehlte, als daß sie keine menschenwürdige Existenz für ihre Körper hatten finden können.
     
    Um elf war die Veranstaltung zu Ende, und die Zuhörer zogen verzagt einer nach dem anderen wieder hinaus in den Schnee, wobei sie murmelnd über die paar Verräter fluchten, die es mit der Reue bekommen hatten und aufs Podium gestiegen waren. Noch eine ganze Stunde, bis die Polizeiwache aufmachte – und Jurgis hatte keinen Mantel, war außerdem von den zwei Wochen Krankenhaus geschwächt. In diesen sechzig Minuten kam er fast um vor Kälte. Er mußte schnell laufen, um sein Blut überhaupt in Bewegung zu halten, und als er zu der Wache kam, fand er dort eine Menschenmenge, die vor dem Eingang die ganze Straße blockierte. Es war der Januar 1904, als dem Land »schwere Zeiten« bevorstanden und die Zeitungen täglich von Fabrikstillegungen berichteten; man schätzt, daß bis zum Frühjahr eineinhalb Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Folglich waren sämtliche zum Übernachten geeigneten Schlupfwinkel in der Stadt belegt, und vor der Polizeiwache gab es einen wilden Kampf aller gegen alle, um hineinzukommen. Als sie schließlich zum Bersten voll war und die Türen geschlossen wurden, stand die Hälfte noch draußen – und darunter Jurgis, der mit seinem unbrauchbaren Arm abgedrängt worden war. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als zu einem Logierhaus zu gehen und weitere zehn Cent zu opfern. Es brach ihm schier das Herz, das tun zu müssen, jetzt um halb eins, nachdem er sich in dem Sektensaal und auf der Straße die halbe Nacht bereits um die Ohren geschlagen hatte. Um Punkt sieben würde er aus dem Quartier hinaus müssen – in den asylartigen billigen Logierhäusern waren die Bretterpritschen so konstruiert, daß sie heruntergeklappt werden konnten, und jeder, der beim Wecken nicht gleich aufstand, wurde einfach auf den Boden gekippt.
    Das war nur ein einziger Tag, und die Kältewelle hielt zwei Wochen an. Nach sechs Tagen hatte Jurgis keinen Cent mehr, und da ging er auf die Straße, um sich mit Betteln am Leben zu erhalten.
    Sobald sich die Stadt morgens mit Leben füllte, fing er an. Von einer Kneipe aus zog er los, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß kein Polizist in Sicht war, sprach er jeden leidlich aussehenden Passanten an, erzählte seine traurige Geschichte und bat um ein paar Cents. Hatte er etwas bekommen, rannte er um die Ecke zurück zu seinem Stützpunkt, um sich wieder aufzuwärmen, und wenn der Spender das sah, schwor er sich im Weitergehen, nie mehr einem Bettler etwas zu geben. Keiner der Angebettelten nahm sich die Zeit, sich zu fragen, wo Jurgis unter den Umständen denn sonst hätte hingehen sollen – wo er, der Spender, in seinem Fall hingegangen wäre. In der Kneipe bekam Jurgis nicht nur mehr und besseres Essen, als es für dasselbe Geld in einem Restaurant gab, sondern dazu auch noch einen Schnaps zum Aufwärmen. Außerdem fand er hier einen behaglichen Platz am Ofen, wo er mit einem Leidensgenossen plaudern konnte, bis ihm mollig warm war. Und er fühlte sich in der Kneipe auch zu Hause. Für den Wirt gehörte es zum Geschäft, Bettlern im Tausch gegen die Erträge ihrer Beutezüge Aufenthalt, Essen und Trinken zu bieten; und wer sonst in der ganzen Stadt tat das schon? Wäre etwa

Weitere Kostenlose Bücher