Der Dschungel
er an sie dachte, ballte er die Fäuste und stürzte sich von neuem in die Arbeit vor ihm. Ona sei zu gut für ihn, sagte er sich, und daß sie nun die Seine war, machte ihn bange. So lange hatte er sich nach ihr verzehrt, und jetzt, nachdem sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, hatte er das Gefühl, ihrer nicht wert zu sein. Daß sie ihm so vertraut, läge einzig und allein an ihrem guten Herzen und wäre nicht sein Verdienst – was sie aber nie herausfinden dürfe! Deshalb war er ständig darauf bedacht, nichts von seinen schlechten Seiten ans Licht kommen zu lassen; selbst bei Kleinigkeiten gab er acht, wie etwa seinen Manieren und seiner Gewohnheit, gleich immer zu fluchen, wenn mal etwas nicht glattging. Ona kamen ja so leicht die Tränen, und sie konnte ihn so flehend ansehen – zu all dem anderen, das ihn beschäftigte, hatte Jurgis nun noch in einem fort damit zu tun, gute Vorsätze zu fassen. Überhaupt ging ihm in dieser Zeit mehr durch den Kopf als in seinem ganzen bisherigen Leben.
Er mußte Ona beschützen, mußte um ihretwillen gegen all die Schrecknisse zu Felde ziehen, die er ringsum sah. Sie hatte ja nur ihn, und wenn er versagte, war sie verloren; er schloß sie immer so in seine Arme, als wollte er sie vor der Welt verstecken. Er hatte jetzt erkannt, wie es um ihn her zuging: Krieg aller gegen alle, und den letzten beißen die Hunde. Man lädt nicht andere zu einer Feier ein, sondern wartet, bis man von ihnen eingeladen wird. Man geht mit Argwohn und Haß im Herzen durch die Welt; du weißt, daß du von feindlichen Mächten umringt bist, die auf dein Geld aus sind und die alles Gute und Edle nur als Köder für ihre Fallen benutzen. Die Geschäftsleute bepflastern ihre Schaufenster mit allen möglichen Lügen, um dich anzulocken; selbst die Zäune am Wegesrand, die Laternenpfähle und die Telegraphenmasten sind mit Lügen beklebt. Das große Unternehmen, bei dem du in Lohn stehst, betrügt dich, betrügt das ganze Land – von vorne bis hinten, von oben bis unten ist alles nur Lug und Trug.
Das Bewußtsein, die ganze Sache durchschaut zu haben, machte sie jedoch nicht weniger schlimm. Der Kampf war einfach zu ungleich – einige waren so sehr im Vorteil! Jurgis zum Beispiel hatte auf den Knien gelobt, Ona vor Leid zu schützen, und doch mußte sie schon eine Woche später schrecklich leiden, denn gegen den Feind, der da zuschlug, konnte er unmöglich an. Eines Morgens regnete es wie mit Gießkannen, und jetzt im Dezember war es alles andere als ein Vergnügen, den ganzen Tag in durchnäßten Kleidern in einem der kalten Keller von Brown zu verbringen. Als einfache Arbeiterin besaß Ona natürlich keinerlei Regenzeug, und deshalb setzte Jurgis sie in die Straßenbahn. Nun gehörte diese Linie aber Leuten, die mit ihr Geld machen wollten. Und als ihnen von der Stadt auferlegt worden war, Umsteigebilletts auszugeben, hatten sie diese voller Unmut lediglich als Zusatzscheine eingeführt, die der Fahrgast gleich beim Bezahlen verlangen mußte und auf die er danach keinen Anspruch mehr geltend machen konnte; später wurden sie noch unverschämter und verboten ihren Schaffnern sogar, sie von sich aus anzubieten. Man hatte Ona zwar gesagt, daß sie einen Umsteiger brauche, aber da es nicht ihre Art war, ungefragt zu reden, wartete sie und folgte dem Schaffner mit den Augen, weil sie meinte, er werde schon noch an sie denken. Als schließlich ihre Haltestelle kam, redete sie ihn doch an und bat um den Umsteiger. Der wurde ihr natürlich verweigert. Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte, und begann, mit dem Schaffner zu argumentieren und zu streiten – in einer Sprache, von der er kein Wort verstand. Nachdem er sie mehrmals gewarnt hatte, klingelte er kurzerhand ab, und die Bahn fuhr weiter, woraufhin Ona in Tränen ausbrach. An der nächsten Ecke stieg sie aus, und da sie kein Geld mehr hatte, mußte sie den restlichen Weg zu den Yards im strömenden Regen zu Fuß zurücklegen. Den ganzen Tag hockte sie fröstelnd da, und abends kam sie zähneklappernd und mit Kopf- und Kreuzschmerzen nach Hause. Zwei Wochen lang litt sie furchtbar und mußte sich doch jeden Tag zur Arbeit schleppen. Die Aufseherin ging mit Ona besonders streng um, denn sie hielt sie für widerborstig, weil ihr der Tag nach ihrer Hochzeit nicht freigegeben worden war. Ona hatte das Gefühl, daß die Aufseherin es nicht gern sah, wenn ihre Arbeiterinnen heirateten – wohl weil sie selber nicht mehr jung und hübsch war und
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