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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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beim Einzug mehr Kinder gehabt, als man zählen konnte. Nach ihrem Tode überließ der Mann, der ja arbeiten gehen mußte, die Kleinen tagsüber sich selbst; ab und an schauten die Nachbarn mal nach ihnen, sonst wären sie glatt erfroren. Schließlich blieben sei einmal drei Tage und Nächte allein, ehe man herausfand, daß ihr Vater einen tödlichen Unfall erlitten hatte. Er war Aufhänger bei Jones, und ein nicht voll betäubter Ochse hatte sich losgerissen und ihn gegen eine Säule gequetscht. Die Kinder wurden dann fortgeholt, und noch in derselben Woche verkaufte die Gesellschaft das Haus an neue Einwanderer.
    So haspelte die Alte erbarmungslos ihre Schauerberichte ab. Mochte einiges davon auch übertrieben sein, insgesamt klangen sie nur zu glaubwürdig. Zum Beispiel das mit der Schwindsucht. Über die wußten unsere Freunde nichts weiter, als daß man dabei ständig hustet, und seit zwei Wochen sorgten sie sich wegen der Hustenanfälle von Antanas. Sie schüttelten ihn nur so und wollten gar nicht mehr aufhören; wo er auf den Boden spuckte, konnte man einen roten Fleck entdecken.
    Doch das Schlimmste sollten sie erst noch zu hören bekommen. Sie hatten angefangen, die alte Frau zu fragen, warum es der einen Familie nicht möglich gewesen sei, das Haus abzubezahlen, und suchten ihr nun vorzurechnen, daß sie es eigentlich hätte schaffen müssen.
    Großmutter Majauszkiene zweifelte ihre Zahlen an. »Ihr sprecht von zwölf Dollar im Monat – aber da sind ja noch nicht die Zinsen bei.«
    Sie starrten sie an. »Zinsen?«
    »Ja, für das Geld, das ihr noch schuldet.«
    »Aber wir brauchen keine Zinsen zu zahlen!« riefen sie, drei oder vier gleichzeitig. »Sondern nur jeden Monat die zwölf Dollar.«
    Sie lachte sie aus. »Ihr seid wie all die andern«, sagte sie, »laßt euch reinlegen und das Fell über die Ohren ziehen. Die Häuser werden niemals ohne Zinsen verkauft. Schaut im Vertrag nach.«
    Angstbebenden Herzens schloß Teta Elzbieta ihre Kommode auf und holte das Dokument hervor, das ihnen schon so vielen Kummer bereitet hatte. Mit verhaltenem Atem saßen sie in der Runde, während die alte Frau, die Englisch lesen konnte, es überflog.
    »Na bitte«, sagte sie dann, »hier steht’s doch: › Zinssatz 7% per annum, monatlich zahlbar.‹«
    »Was heißt das?« fragte Jurgis schließlich und fast flüsternd.
    »Nun«, antwortete Großmutter Majauszkiene, »daß ihr jeden Monat zu den zwölf Dollar noch sieben dazuzahlen müßt.«
    Wieder herrschte Totenstille. Es war ein scheußliches Gefühl, wie in einem Alptraum, wenn plötzlich der Boden unter einem nachgibt und man spürt, daß man fällt und fällt, immer tiefer, hinein in einen bodenlosen Abgrund. Wie im Licht eines Blitzes sahen sie sich selbst: Opfer eines erbarmungslosen Schicksals, ohne jede Aussicht auf Rettung dem Verderben ausgeliefert. Das ganze schöne Gebäude ihrer Hoffnungen krachte über ihnen zusammen. Und währenddessen redete die Alte immer weiter. Wenn sie doch nur aufhören wollte – ihre Stimme klang wie das Krächzen eines Unglücksrabens! Jurgis hockte mit geballten Fäusten und mit Schweißperlen auf der Stirn da, und Ona würgte ein dicker Kloß in der Kehle. Dann durchbrach Teta Elzbieta das Schweigen mit plötzlichem Aufschluchzen, und Marija rang die Hände und jammerte: »Ai! Ai! Beda man!«
    All ihr Lamentieren half natürlich nichts. Ungerührt saß Großmutter Majauszkiene da, das verkörperte gnadenlose Schicksal. Freilich sei das nicht anständig an ihnen gehandelt, sagte sie, aber um Anstand gehe es hier auch gar nicht. Und freilich hätten sie es nicht gewußt – hätten es gar nicht wissen sollen. Doch stehe es im Vertrag, und das allein zähle, wie sie schon noch merken werden.
    Irgendwie wurden sie ihren Gast wieder los, und sie verbrachten eine Nacht voller Wehklagen. Die Kinder wachten auf und merkten, daß irgendwas nicht in Ordnung war, fingen an zu weinen und wollten sich nicht wieder beruhigen. Am Morgen mußten die meisten von ihnen natürlich zur Arbeit, denn ihrer Sorgen wegen ließen die Fleischfabriken nicht den Betrieb ruhen, aber um sieben Uhr standen Ona und ihre Stiefmutter schon vor dem Büro des Maklers. Ja, sagte er ihnen, als er kam, es stimme, daß sie Zinsen zahlen müssen. Da überschüttete Teta Elzbieta ihn mit so lauten Protesten und Vorwürfen, daß die Leute auf der Straße stehenblieben und zum Fenster hereinschauten. Der Makler war so höflich wie immer. Es tue ihm aufrichtig leid,

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