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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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gefressen. An seinen Füßen begannen sich offene Stellen zu bilden, die zusehends schlimmer wurden. Er wußte nicht zu sagen, ob sie von irgendwelchen Kratzern herrührten, die sich entzündet hatten, oder einfach von schlechtem Blut, und als er die Kollegen um Rat fragte, sagten die ihm, das wär das Übliche – es komme vom Salpeter. Früher oder später kriege das hier jeder, und dann sei es aus mit ihm, jedenfalls für diese Art von Arbeit. Die Wunden würden nie mehr zuheilen – am Ende faulen einem die Zehen ab, wenn man nicht aufhört. Aber der alte Antanas wollte nicht aufhören; er sah, wie seine Familie Not litt, und er dachte daran, was es ihn gekostet hatte, diese Arbeit zu bekommen. Also umwickelte er seine Füße und machte humpelnd und hustend weiter, bis er schließlich zusammenbrach: Er kippte plötzlich um und kam nicht mehr hoch. Man trug ihn zu einer trockenen Stelle, legte ihn dort auf den Boden, und am Abend halfen ihm zwei Männer nach Hause. Antanas wurde ins Bett gesteckt, und obwohl er es bis zuletzt jeden Morgen versuchte, konnte er nicht wieder aufstehen. Er lag da, hustete sich Tag und Nacht die Lunge aus dem Leib und wurde immer weniger, bis er zum Skelett abgemagert war – ein schrecklicher Anblick, ja auch schon ein schrecklicher Gedanke. Eines Nachts hatte er dann einen Erstickungsanfall, wobei aus seinem Mund ein kleiner Blutschwall kam. Außer sich vor Angst, holte die Familie einen Arzt und zahlte einen halben Dollar, um dann zu hören, daß nichts mehr zu machen sei. Zum Glück sagte der Arzt das nicht in Hörweite des alten Mannes, denn der klammerte sich noch immer an den Glauben, daß es ihm morgen oder übermorgen besser gehen werde und er wieder arbeiten könne. Die Firma hatte ihm ausrichten lassen, man halte ihm seine Stelle frei – oder vielmehr hatte Jurgis einen von Antanas’ Kollegen gedungen, an einem Sonntagnachmittag vorbeizukommen und das zu sagen. Der arme alte Mann glaubte nach wie vor daran, während er drei weitere Blutstürze erlitt, und schließlich fanden sie ihn eines Morgens steif und kalt vor. Es ging ihnen zur Zeit ziemlich schlecht, und obwohl es Teta Elzbieta fast das Herz brach, sahen sie sich gezwungen, auf nahezu alles zu verzichten, was zu einem anständigen Begräbnis gehört. Sie nahmen nur den Leichenwagen und für die Frauen und Kinder eine Droschke. Jurgis, der rasch dazulernte, verbrachte den ganzen Sonntag damit, dafür einen niedrigen und vor allem festen Preis auszuhandeln, und er tat das im Beisein von Zeugen, damit der Kutscher ihm nicht hinterher noch irgendwelche Nebenkosten berechnen konnte. Fünfundzwanzig Jahre hatten der alte Antanas Rudkus und sein Sohn miteinander im Wald gelebt, und jetzt so zu scheiden tat weh. Aber vielleicht war es gut, daß Jurgis sich ganz darauf konzentrieren mußte, durch die Beerdigung nicht an den Bettelstab zu kommen, und folglich keine Zeit hatte, sich seinen Erinnerungen und seinem Schmerz hinzugeben.
     
    Nun war der Winter mit all seinen Schrecken da. Im Walde führen den ganzen Sommer lang die Zweige der Bäume einen Kampf ums Licht, und manche verlieren ihn und sterben allmählich ab; dann kommen die Winde, die Hagel- und Schneestürme und besäen den Boden mit diesem verdorrten Geäst. Genauso war es in Packingtown: Das ganze Viertel rüstete sich zum harten Überwinterungskampf, und jene, die den nicht durchhielten, starben scharenweise dahin. Das Jahr über hatten sie als Rädchen in der großen Yard-Maschine gedient, und jetzt kam die Zeit zu deren Überholung und zum Auswechseln beschädigter Teile. Lungenentzündung und Influenza gingen um und suchten nach geschwächten Konstitutionen, die Schwindsucht hielt ihre alljährliche Ernte unter denen, die sie bereits aufs Lager geworfen hatte, und schneidende Winde und Blizzards waren eine erbarmungslose Prüfung für erschlaffte Muskeln und zu dünnes Blut. Früher oder später kam der Tag, da der Entkräftete nicht mehr zur Arbeit erschien, und dann, ohne daß man erst lange auf ihn wartete, sich nach ihm erkundigte oder ihn bedauerte, erhielt ein anderer seinen Platz.
    Arbeitskräfte gab es ja wie Sand am Meer. Jeden Tag waren die Tore der Fabriken bis in den Nachmittag hinein belagert von Männern, die keinen Cent in der Tasche hatten und denen man den Hunger ansah; Morgen für Morgen kamen sie, buchstäblich zu Tausenden, und kämpften gegeneinander um eine Überlebenschance. Schnee und Kälte vermochten sie nicht zu hindern – sie

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