Der Dschungel
erklärte er. Gewiß, er habe es ihnen nicht eigens gesagt, weil er angenommen hatte, sie wüßten, daß sie auf ihre Schulden selbstredend Zinsen zahlen müssen.
So zogen sie wieder ab. Ona ging hinüber zu den Yards und traf sich zur Mittagspause mit Jurgis. Der nahm die Sache mit Fassung auf. Er sagte, er habe sich inzwischen damit abgefunden, es sei Schicksal. Irgendwie würden sie es schon schaffen – und er fügte seinen üblichen Satz hinzu: »Ich werde eben mehr arbeiten.« Ihre Pläne stoße es allerdings für eine Zeitlang um, und vielleicht müsse Ona doch arbeiten gehen. Sie sagte ihm, Teta Elzbieta habe dasselbe für Stanislovas beschlossen; es könne nicht verlangt werden, daß Jurgis und sie die Familie ernähren – die Familie müsse, soweit es in ihrer Kraft steht, dabei mithelfen. Bisher hatte Jurgis solche Überlegungen von sich gewiesen, nun aber zog er die Brauen zusammen und nickte langsam: Ja, vielleicht sei es das beste so; sie müßten jetzt eben alle Opfer bringen.
Ona machte sich noch am selben Tag auf Arbeitssuche. Am Abend kam Marija heim und sagte, sie sei mit einer Kollegin näher bekannt geworden, einer gewissen Alena Jasaityte, und die wiederum habe eine Freundin, die in der Versandabteilung von Brown arbeitet und Ona da vielleicht unterbringen kann; allerdings gehöre die Aufseherin zu jener Sorte, die geschmiert werden will, und sie um eine Stelle anzugehen, habe überhaupt nur Sinn, wenn man ihr dabei einen Zehn-Dollar-Schein in die Hand drückt. Jurgis überraschte so etwas nicht mehr, er fragte lediglich, wieviel Lohn dort gezahlt werde. So wurden dann die Verhandlungen aufgenommen. Nach einem ersten Vorsprechen bei der Aufseherin berichtete Ona den anderen, diese habe erklärt, fest zusagen könne sie es zwar nicht, aber sie denke schon, daß sie sie zum Einnähen von Schinken in Schutzhüllen einsetzen kann, einer Arbeit, bei der sie auf acht bis zehn Dollar die Woche kommt. Das lasse sich hören, meldete Marija, nachdem sie ihre Kollegin befragt hatte, und dann gab es eine aufgeregte Familienkonferenz. Onas Arbeitsplatz wäre in einem Keller, und das war Jurgis nicht recht, aber andererseits handelte es sich um leichte Arbeit, und man konnte nicht alles haben. So hatte Ona dann, ausgerüstet mit einem Zehn-Dollar-Schein, der ihr förmlich ein Loch in die Hand brannte, ein weiteres Gespräch mit der Aufseherin.
Inzwischen war Teta Elzbieta mit Stanislovas beim Priester gewesen und hatte sich von ihm eine Bescheinigung ausstellen lassen, laut der er über zwei Jahre älter war als in Wirklichkeit, und damit zog der Junge nun los, sein Glück in der Welt zu machen. Es traf sich, daß man bei Durham den Betrieb gerade auf eine großartige neue Schmalzabfüllmaschine umgestellt hatte, und als der Wachmann an der Zeitkontrolle Stanislovas und seine Urkunde sah, lächelte er vor sich hin und hieß ihn reingehen, indem er mit dem Arm die Richtung wies und »Czia! Czia!« sagte. Stanislovas lief durch einen langen Korridor mit Steinboden zu einer Treppe, die ihn in einen elektrisch beleuchteten Raum hinunterführte, in dem die neuen Maschinen arbeiteten. Das Schmalz wurde in dem Stockwerk darüber fertiggestellt und kam durch Düsen hierher herunter, aus denen es in kleinen Strahlen herausfloß, wie wunderschöne schneeweiße sich ringelnde Schlangen von unangenehmem Geruch. Diese Strahlen hatten verschiedene Formen und Größen, und war von der einen Sorte eine genau dosierte Menge herausgekommen, hörte der Strahl automatisch auf und schob die Maschine die Büchse unter eine andere Düse und immer so weiter, bis sie fein säuberlich bis zum Rand gefüllt und der Inhalt fest eingepreßt und glattgestrichen war. Um dieses technische Wunderwerk zu bedienen und somit in der Stunde etliche hundert Büchsen mit Schmalz zu füllen, waren nur zwei Menschen nötig: einer, dessen Fähigkeiten ausreichten, alle paar Sekunden eine leere Büchse auf eine bestimmte Stelle zu setzen, und einer, der alle paar Sekunden eine volle Büchse von einer bestimmten Stelle wegnehmen und auf ein Tablett tun konnte.
Nachdem der kleine Stanislovas einige Minuten dagestanden und sich schüchtern umgeschaut hatte, trat ein Mann zu ihm heran und fragte, was er wolle. »Arbeit«, erwiderte der Junge. Daraufhin sagte der Mann: »Wie alt?«, und Stanislovas antwortete: »Sechzehn.« Ein-, zweimal im Jahr kam ein Staatsinspektor durch die Fleischfabriken und fragte hier und da ein Kind nach seinem Alter. Deshalb
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