Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
waren die Firmen sehr darauf bedacht, dem Gesetz Genüge zu tun, was sie nicht mehr Mühe kostete als jetzt den Aufseher, der Stanislovas die Bescheinigung aus der Hand nahm, einen Blick darauf warf und sie dann zur Ablage ins Büro schickte. Danach setzte er jemanden an eine andere Arbeit und zeigte dem Jungen, wie er jedesmal, wenn der leere Arm der gnadenlosen Maschine auf ihn zukam, eine Schmalzbüchse hinstellen müsse. Und so wurden für den kleinen Stanislovas sein Platz in der Welt und sein Schicksal bis ans Ende seiner Tage festgelegt. Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr sollte er von sieben Uhr früh bis mittags um zwölf und dann wieder von halb eins bis halb sechs auf demselben Viertelquadratmeter Boden stehen, ohne jemals eine andere Bewegung zu machen als diese eine oder an etwas anderes zu denken als ans Hinsetzen von Schmalzbüchsen. Im Sommer würde ihm von dem Gestank des warmen Schmalzes übel werden, und im Winter würden ihm in dem ungeheizten Keller die nackten kleinen Finger an den Büchsen anfrieren. Die Hälfte des Jahres würde es bei seinem Weg zur Arbeit noch dunkel und bei seinem Heimweg schon wieder dunkel sein, er also werktags nie die Sonne zu sehen bekommen. Und dafür würde er jeden Samstag seiner Familie drei Dollar nach Hause bringen: seinen Wochenverdienst bei einem Stundenlohn von fünf Cent – den auf ihn entfallenden Anteil am Gesamtverdienst der eindreiviertel Millionen Kinder, die sich heute in den Vereinigten Staaten ihren Lebensunterhalt verdienen müssen.
     
    Und unterdessen rechneten Jurgis und Ona wieder, denn sie waren jung, und die Hoffnung läßt sich nicht vor der Zeit ersticken. Sie hatten herausgefunden, daß Stanislovas’ Lohn ein bißchen mehr ausmachte, als sie für die Zinsen brauchten, und damit waren sie gerade so weit wie vorher! Gerechterweise muß jedoch gesagt werden, daß der Junge begeistert war von seiner Arbeit und von der Vorstellung, so viel Geld zu verdienen, und daß die beiden sich eben sehr liebten.

7
    Den ganzen Sommer hindurch rackerte sich die Familie ab, und im Herbst hatte sie das Geld beisammen, daß Jurgis und Ona nach gutem alten heimatlichen Brauch heiraten konnten. Ende November mieteten sie einen Saal und luden all ihre neuen Bekannten ein, die auch kamen und sie dann mit über hundert Dollar Schulden sitzenließen.
    Es war eine bittere und grausame Erfahrung, die das junge Ehepaar in qualvolle Verzweiflung stürzte. Und das gerade jetzt, da ihre Seelen so empfindsam gestimmt waren! Welch kümmerlicher Anfang für ihr gemeinsames Leben: Sie liebten sich so sehr, und doch konnten sie sich nicht die kleinste Pause gönnen, um sich ganz einander zu widmen. Es war eine Zeit, in der ihnen alles zuzurufen schien: Seid glücklich!, eine Zeit, in der in ihren Herzen das Wunder glühte und beim leisesten Hauch zur Flamme aufloderte. Die Erfüllung ihrer Liebe wühlte sie bis ins Innerste auf und gab ihnen zugleich tiefe Ehrfurcht ein – war es da wirklich eine so unverzeihliche Schwäche, daß sie sich nach ein wenig Ruhe und Frieden sehnten? Ihre Herzen hatten sich geöffnet wie Blumenknospen im Frühling, und nun brach der gnadenlose Winter über sie herein. Sie fragten sich, ob jemals in der Welt eine Liebe geblüht habe, auf der so herumgetrampelt wurde!
    Unbarmherzig knallte über ihnen die Knute der Not; am Morgen nach ihrer Hochzeit traf sie sie noch im Schlaf und trieb sie vor Tagesanbruch zur Arbeit. Ona konnte sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten, aber wenn sie ihre Stelle verlor, wäre das ihrer aller Ruin, und kam sie heute zu spät, verlor sie sie ganz bestimmt. Alle mußten sie hinaus, selbst der kleine Stanislovas, dem hundeelend war, weil er zu viele Würstchen gegessen und zu viele Gläser Sarsaparilla getrunken hatte. Den ganzen Tag lang wankte er an seiner Schmalzmaschine hin und her, und immer wieder fielen ihm die Augen zu, so sehr er auch dagegen ankämpfte; er war nahe daran, entlassen zu werden, denn der Vorarbeiter mußte ihn zweimal durch einen Fußtritt wecken.
    Es dauerte eine volle Woche, ehe sie sich alle wieder erholt hatten, und währenddessen war das Haus mit den quengelnden Kindern und schlechtgelaunten Erwachsenen kein eben gemütlicher Aufenthalt. Trotz alledem verlor Jurgis nur selten die Geduld. Das lag an Ona; ein flüchtiger Blick auf sie genügte, und er beherrschte sich wieder. Sie war so empfindsam – war für solch ein Leben nicht geschaffen, und hundertmal am Tag, wenn

Weitere Kostenlose Bücher