Der Dschungel
waren immer zur Stelle, fanden sich bereits zwei Stunden vor Sonnenaufgang und eine Stunde vor Arbeitsbeginn ein. Manchmal holten sie sich dabei Frostbeulen an Nase, Wangen, Ohren, Händen oder Füßen, und es kam auch vor, daß einer völlig erfror, doch das hielt keinen ab, denn wo sollten sie sonst hin? Einmal inserierte Durham in der Zeitung nach »200 Mann zum Eisschneiden«, und da kamen den ganzen Tag lang die Obdachlosen und Hungerleidenden der Stadt von überall her aus deren zweihundert Quadratmeilen durch den Schnee herbeigestapft. Zur Nacht drängten achthundert Leute in die Polizeiwache des Yard-Bezirks; sie füllten die Räume völlig aus, schliefen sozusagen im Schlittensitz einer in des anderen Schoß, und auf den Korridoren lagen sie wie die Heringe, bis die Beamten keinen mehr hereinließen und einige draußen dem Erfrieren ausgesetzt blieben. Am Morgen standen schon vorm Hellwerden dreitausend Mann vorm Eingang von Durham, und es mußte Bereitschaftspolizei eingesetzt werden, um mit dem Tumult fertig zu werden. Dann suchten sich die Aufseher zwanzig der kräftigsten Männer aus – »200« war ein Druckfehler gewesen.
Vom vier, fünf Meilen östlich liegenden Michigan-See kamen eisige Winde herangebraust. Mitunter fiel das Thermometer nachts auf zwanzig oder gar dreißig Grad unter Null und reichten dann am Morgen die Schneewehen bis hoch zu den Fenstern. Die Straßen, durch die unsere Freunde zur Arbeit gehen mußten, waren alle ungepflastert und voller tiefer Schlaglöcher und Rinnen; im Sommer konnte es nach starkem Regen vorkommen, daß man, um zu seinem Haus zu gelangen, durch knietiefes Wasser waten mußte, und jetzt im Winter war es erst recht eine Quälerei, sich im Morgen- und im Abenddunkel da hindurchzuarbeiten. Sie wickelten sich ein, zogen sich alles an, was sie besaßen, aber selbst die wärmste Kleidung half nicht gegen Erschöpfung, und beim Kampf gegen diese Schneewehen ermattete selbst mancher Mann, so daß er niedersank und einschlief.
Wenn es schon für die Männer schlimm war, kann man sich vorstellen, wie schwer es erst den Frauen und Kindern wurde. Manche nahmen die Straßenbahn, sofern die überhaupt fuhr, aber wenn man so wie der kleine Stansislovas in der Stunde bloß fünf Cent verdient, möchte man nicht genausoviel für die kurze Strecke von zwei Meilen ausgeben. Die Kinder kamen so eingemummt zu den Fabriken, hatten die Schals so hoch über die Ohren gezogen, daß von ihren Gesichtern kaum noch etwas zu sehen war – und trotzdem erlitten immer wieder welche Erfrierungen. Eines bitterkalten Morgens im Februar erschien der Junge, der mit Stanislovas an der Schmalzmaschine arbeitete, fast eine Stunde zu spät, und er schrie vor Schmerzen. Die Männer wickelten ihn aus, und einer begann, ihm die Ohren zu reiben, und da die steifgefroren waren, brachen sie nach zwei-, dreimal Rubbeln ab. Auf Grund dieses Erlebnisses entwickelte Stanislovas einen solchen Horror vor Kälte, daß es schon an Manie grenzte. Jeden Morgen, wenn es Zeit wurde, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen, fing er an zu weinen und sträubte sich. Keiner wußte, wie man ihm das austreiben sollte; Drohungen nutzten nichts – es schien etwas zu sein, über das er keine Gewalt hatte, und manchmal befürchteten sie sogar, er könne in Krämpfe verfallen. Schließlich mußten sie es so einrichten, daß Jurgis ihn stets hinbrachte und auch abholte; bei tiefem Schnee trug der Mann den Jungen oft den ganzen Weg huckepack. Mitunter arbeitete Jurgis bis sehr spät abends, und das war schlimm, denn es gab für den kleinen Kerl nirgends einen Platz zum Warten außer auf den Fluren oder in einer Ecke der Schlachthalle, wo er dann manches Mal beinahe eingeschlafen und erfroren wäre.
Die Schlachthallen hatten keinerlei Heizung; die Männer hätten genausogut den ganzen Winter hindurch im Freien arbeiten können. Überhaupt gab es in dem Gebäude sehr wenig Wärme, abgesehen von dort, wo gekocht und gebrüht wurde – aber wer da arbeitete, war noch größerer Gefahr ausgesetzt, weil er jedesmal, wenn er in einen anderen Raum mußte, eiskalte Korridore zu passieren hatte, oft mit nichts weiter auf dem Oberkörper als einem ärmellosen Unterhemd. An den Schlachtbändern war man meist mit Blut bespritzt, und das gefror rasch; wenn man sich an eine Säule lehnte, fror man selber daran an, und faßte man mit der Hand an die Klinge seines Messers, konnte es geschehen, daß die Haut hängenblieb. Die Arbeiter umbanden
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