Der Dschunken Doktor
es an. Aber es waren nur zwei Einstiche. Das Heroin war der Einstieg. Was dann kam, weiß keiner.«
»Ein neues, unbekanntes Rauschgift?«
»Warum fragen Sie mich?«
»Und die Leber zerfiel …«
»Ich werde Ihnen erzählen, was niemand weiß.« Dr. Mei sah Dr. Merker mit weiten, runden Augen an. »Ich spüre, daß ich es Ihnen erzählen muß … gerade Ihnen – und Ihnen allein. Noch einen Wodka?«
»Bitte nicht.«
»Aber ich!« Dr. Mei griff zur Flasche, goß das Wasserglas wieder voll und kippte das scharfe Getränk weg in seine Kehle. Bei ihm hat die ganze Flasche drei Gläser, dachte Merker erschüttert. Wieso lebt er noch? Wie kann ein Körper so etwas verarbeiten?
Dr. Mei leckte über seine Lippen. »Sie sind sehr höflich«, sagte er.
»Wieso?«
»Sie zeigen mit keiner Regung, daß Sie wissen, um wen es sich handelt.«
»Sie werden es mir sagen, Dr. Mei.«
»Wenn Hunde sich mögen, beschnuppern und belecken sie sich. Verzichten wir auf dieses Spiel … Sagen wir sofort, was wir denken und wissen! Es war meine Tochter. Oder präziser: Es war nicht mehr meine Tochter. Der Mensch, der da mit mir lebte, hatte das Äußere meiner Tochter, er bewegte sich wie meine Tochter, er aß und schlief wie meine Tochter … aber schon die Augen waren fremd. Ob dieser Mensch noch denken konnte, wußte ich nicht mehr, denn er sprach kein Wort mit mir. Der Mensch, der wie meine Tochter aussah, war da … mehr nicht. Nur Gegenwart ohne Ansprache oder Aussprache.
Und dann geschah es plötzlich. Ohne eine Gemütsregung steckte sie an neun verschiedenen Stellen meine Dschunke in Brand. Ihre Geburtsstätte. Den Mittelpunkt ihres Lebens! Es war ein Wettlauf. Hatte ich drei Stellen gelöscht, brannte es an zwei anderen Stellen! Ich wollte meine Tochter festhalten … sie biß und trat um sich, schlug mit den Fäusten, und als ich sie von hinten umklammert hielt und immer wieder ihren Namen rief, griff sie unter das Kleid und zog einen Dolch. Und das alles ohne einen Laut, ohne ein Wort … und mit einem Lächeln! Ein schreckliches Lächeln! Ein verfluchtes Lächeln! Ein überirdisches Lächeln! Es gelang ihr nicht, mich zu erstechen, obgleich es vielleicht das beste gewesen wäre, was mir geschehen konnte … ich hieb ihr in meiner Verzweiflung mit der Handkante in den Nacken und betäubte sie. Dann löschte ich das Schiff, schleifte sie unter Deck und gab ihr kreislaufstabilisierende Spritzen.«
Dr. Mei blickte auf den schmierigen Dielenboden und atmete tief auf. »Von da an mußte ich sie einsperren wie ein wildes Tier. Sie hätte mich bei der nächsten Gelegenheit umgebracht! Meine kleine Tochter Mei-tien! Und immer lag dieses starre, verdammte Lächeln auf ihrem wunderschönen Gesicht.«
»Auch die der Polizei bisher bekannten Mörder lächelten bis zu ihrem Tod und schwiegen.«
»Das habe ich erst jetzt durch Yang Lan-hua erfahren und war danach vier Tage besoffen!« Dr. Mei wischte sich über das aufgedunsene Gesicht. »Da paßt doch alles zueinander! War Mei-tien eines der ersten Glieder einer Kette? Wie viele solcher lächelnder Monstren hat es gegeben und gibt es noch, ohne daß es bekannt wird? Gewalt und Tod, damit lebt man in Hongkong wie mit den tausenden Händlern und Marktständen. Machen wir es kurz, Kollege: Mei-tien starb in ihrem Käfig, dort, nebenan. Sie können ihn nachher sehen, ich habe nichts verändert. Und ich bestand darauf, daß man sie obduzierte. Ich wollte sehen, was sie zerstört hatte. In der Pathologie traf ich einen netten, jungen Kollegen, der mir sehr half und alles zur Verfügung stellte. Ich durfte danebenstehen, als man Mei-tien aufschnitt und ausräumte. Wissen Sie, was das für einen Vater bedeutet? Ich habe geweint wie ein Hund, dem man bei lebendem Leib das Fell abziehen will. Aber ich habe durchgehalten! Die Ärzte im Kwong Wah Hospital waren sehr kollegial. Am besten war der junge Oberarzt, Dr. Wang An-tse.«
»Sieh an«, sagte Dr. Merker trocken. »Den gab es damals auch schon.«
»Heute ist er Chefarzt …«
»Ich weiß. Wir zwei untersuchen gemeinsam die geheimnisvollen Fälle. Dr. Wang hat einen guten Namen, nur ist er zu ehrgeizig. Für ihn ist es eine Schande, daß man einen Weißen eingeschaltet hat.«
»Damals war er sehr hilfreich. Aber gefunden haben wir nichts, außer der völlig zerstörten Leber. Aber eine Leber kann keine Persönlichkeit verändern und eine lächelnde Bestie schaffen. Dieses Rätsel blieb! In Mei-tiens Körper fanden sich keine Reste von
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