Der Dschunken Doktor
steigen Sie aus …«
»Was heißt das?« fragte Dr. Merker betroffen.
»Können Sie aus dem Vertrag mit dem Tropeninstitut heraus?«
»Nur wenn ich vertragsbrüchig werde. Dann liege ich auf der Straße. Warum sollte ich?«
»Ja, warum? So ein sicherer Job …« Dr. Mei setzte wieder die Flasche an den Mund, trank schlürfend und rülpste hinterher laut. »Fritz, ich schenke Ihnen meine Dschunke …«
»Das nehme ich nicht an, Dr. Mei.« Dr. Merker blickte zu Yang hinüber. Noch immer hockte sie unbeweglich auf den alten Matten. Nur das Heben und Senken ihrer Brust bewies, daß sie atmete, lebte. »Du sagst gar nichts …«
»Ich liebe dich«, antwortete sie ruhig.
»Wenn das nicht genug ist!« rief Dr. Mei. »Ich sage es ja: Sie sind vom Glück geküßt, Fritz! Sie haben die Pforten aller Glückseligkeiten aufgestoßen! Yang liebt Sie … und Sie sind kein Chinese!« Er machte wieder eine weite, alles umfassende Handbewegung. »Alles gehört Ihnen, Fritz! Ich habe einmal gesagt: Wenn ich mich totgesoffen habe, soll man meine Dschunke hinaus ins Meer fahren und dort versenken. Mit meinem unwürdigen Leichnam an Bord. Jetzt gehört sie Ihnen. Glotzen Sie mich nicht so dumm an. Dieses Schiff verbirgt Schätze! Kommen Sie mit. Ich zeige sie Ihnen.«
Dr. Mei ging voraus. Merker folgte ihm und war betroffen über den Verfall, den er überall sah. Kammern voller Staub und Spinnweben, Gerümpel, faulendes Holz, davonhuschende Ratten und dicke Käfer, die anscheinend vom Schimmel lebten.
Und dann der erschütternde Anblick: der Röntgenraum. Ein uraltes Gerät hinter einer lederbezogenen Liege, aber das Leder war grün geworden. Moos wucherte darüber. In der Ecke ein Generator, der einmal den Strom geliefert hatte. Verrostet.
In einem anderen Raum war einmal die Ordination von Dr. Mei gewesen. Auch hier stand eine Untersuchungsliege, jetzt vermodert und aufgerissen; an der Wand verrostete ein früher weiß lackierter Metallschrank für die Instrumente und die nötigsten Medikamente. Auf einem Tischchen stand der Sterilisator, verbeult, mit abgesprungenem Chromüberzug. Aber am erschütterndsten war der Schreibtisch anzusehen, der eine ganze Ecke des Raumes ausfüllte. Hier lagen Berge von schimmelnden Krankengeschichten, blinde Röntgenbilder, alte Zeitschriften, Rezeptbücher, zwei offene Karteikästen mit von Mäusen angefressenen Karteikarten und in einem Silberrahmen das Foto einer jungen, hübschen Chinesin mit einem etwa drei Jahre alten Mädchen auf dem Arm.
Dr. Mei griff nach dem Rahmen und hielt ihn Dr. Merker hin.
»Das war mein Glück«, sagte er dumpf. »Können Sie jetzt verstehen, daß ich saufe?«
»Nein!«
»Ich weiß … das ärztliche Ethos! Nicht jeder hat das Gemüt eines Mammuts! Ich bin an Mei-tiens Sterben zerbrochen.« Er setzte sich hinter den vergammelten Schreibtisch und holte einige der angefressenen Karteikarten aus dem Holzkasten. Mit gerunzelter Stirn las er die Namen und warf dann die Blätter auf den Tisch. »Sie sind alle tot, nur ich lebe noch. Und warum lebe ich? Es hat nur einen Grund: Ich möchte dem gegenüberstehen, der mir meine Mei-tien genommen hat! Er ist derselbe, der für die ungeklärten Morde verantwortlich ist.« Dr. Mei blickte auf. »Helfen Sie mir, Fritz. Ich flehe Sie an …«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Dr. Merker mit trockener Kehle.
»Am Schreibtisch im Queen Elizabeth Hospital wird dies kaum möglich sein. Hier müssen Sie hin. Unter die Wasserchinesen. Denken Sie an Mei-tien und ihre zwei Freunde. Mei-tien kam zurück, um hier zu sterben, Ihre Freunde blieben an Land verschwunden. Sie blieben nicht allein …«
»Was heißt das?«
»Nach Mei-tien verschwanden noch drei Mädchen und sieben Jungen an Land.«
»Und keiner unternimmt etwas?« rief Dr. Merker entsetzt.
»Was soll ein Wasserchinese an Land? Auf festem Boden ist er hilflos. Wo soll er suchen? Die Stadt, die Straßen, die Gassen … sie sind ein Labyrinth für ihn.«
»Und die Polizei?«
»Die Polizei!« Dr. Mei winkte ab. »Sie registriert – was soll sie mehr tun? Da geht ein Wasserchinese an Land und kommt nicht wieder. Wen soll die Polizei fragen? Niemand kennt ihn, und niemand wird etwas sagen. Wer sucht denn eine entlaufene Ratte? Man gewöhnt sich daran, Abfall zu sein.«
»Das ist ja grauenhaft, Dr. Mei.«
»Ihr Europäer werdet das nie begreifen. Was ist ein Leben? Demonstrieren wir das einmal auf einem Gebiet, von dem man es am wenigsten erwartet: die
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