Der Dschunken Doktor
den Tisch. Dr. Merker stürzte in den Raum, halb angezogen, mit bloßem Oberkörper.
»Was ist denn hier los?« rief er.
»Ich räume auf.« Dr. Mei schien sehr zufrieden zu sein. »Unsere Patienten haben ein Recht, in einem leidlich menschlichen Rahmen untersucht zu werden. Wie weit sind Sie, Fritz?«
»In zehn Minuten stehe ich zur Verfügung.«
»Was macht Yang Lan-hua?«
»Sie schläft noch.« Dr. Merker lächelte schwach. Er war müde, sein Kopf brummte, und er sehnte sich nach Yangs glatter Wärme. Sie schlief so fest, daß sie den Kuß nicht gemerkt hatte, mit dem sich Merker von ihr löste. »Wo kann ich mich waschen?«
»Pardon!« Dr. Mei erhob sich. »Natürlich habe ich ein Badezimmer an Bord! Erschrecken Sie nicht, es ist seit fünf Jahren nicht mehr benutzt worden. Wenn ich meinen Körper waschen will, schwimme ich einmal um die Dschunke. Glotzen Sie nicht so, Fritz – das kann ich noch! Ich bin wie ein Gummiball, ich schwimme fast von allein. Geradeaus, linke Tür, die zweite … das ist das Badezimmer.«
»Ihr Badezimmer ist eine Wucht!«
»Nicht wahr? Sagte ich's doch!«
»Mir ist rätselhaft, wie ein Mann in solcher Verkommenheit leben kann.«
»Ich lebe doch nicht mehr, Fritz. Ich warte nur noch auf Mei-tiens Mörder!«
»Trotzdem. Im Badezimmer brauchen keine Pilze zu wachsen!«
»Tun sie das? Ich weiß es nicht! Sind sie eßbar?«
Es hatte keinen Sinn, auf Meis galligen Humor einzugehen. Merker hob den Kopf. Über ihnen, auf Deck, trampelten Füße hin und her. Es schien auch, als schwanke die Dschunke etwas. Dr. Mei nickte.
»Das sind mindestens vierzig Patienten. Bis gegen elf Uhr werden es hundert sein. Sie warten jetzt, daß ich die Pauken schlage, an Deck komme, sie total besoffen beschimpfe und wegschicke. In fünf Jahren habe ich neunmal eine Sprechstunde durchgehalten. Nun warten sie darauf, daß das wieder mal passiert! So etwas nennt man Treue.« Er klatschte in die fetten Hände. »Sind Sie bereit, Fritz?«
»Ja!«
»Dann an die Morgensonne, mein Freund! Schenken wir unseren Brüdern und Schwestern das Wunder, mich nüchtern zu sehen.«
»Sie stinken grauenhaft nach Alkohol, Mei …«
»Das ist nicht zu vermeiden. Kommt aus allen Poren. Wenn ich schwitze, tritt kein Schweiß aus, sondern Alkohol! Medizinisch gesehen bin ich unsterblich: Ich bin bereits konserviert! Hinauf! Hinauf!«
Sie stiegen über die breite, faulende Treppe an Deck und sahen vor sich eine dichtgedrängte Menschenmenge. Frauen und Kinder, Junge und Greise; zwei Tragen aus Bambusstangen, mit einer Zeltplane dazwischen, auf denen eine alte Frau und ein kräftiger Mann lagen. Der Mann knirschte mit den Zähnen, er mußte schreckliche Schmerzen haben, aber sein Gesicht war unbewegt, und seine Augen blickten ehrfurchtsvoll auf Dr. Mei. Neben seiner Trage stand die ganze Familie. Die Frau, vier Kinder, seine Eltern, die Urgroßmutter, nur noch ein weißhaariges Gerippe. Als sie Dr. Mei sah, fiel sie in die Knie und erhob flehend die Hände.
Wie auf ein Kommando neigten alle den Oberkörper tief nach vorn und grüßten die Hoffnung ihrer Heilung, den erleuchteten und erhabenen Mei Ta-kung.
»So ist es seit dreißig Jahren!« sagte Dr. Mei. »Wie soll ich ihnen sagen, daß ich nichts mehr kann? Sie würden es nie verstehen. Nur den Besoffenen nehmen sie mir ab. Das ist greifbar.«
»Der Mann in der Zeltplane muß sofort behandelt werden!« sagte Dr. Merker.
»Bitte! Ich halte Sie nicht ab!«
Dr. Mei sprach ein paar Sätze in einem Chinesisch, das Dr. Merker nicht verstand. Es mußte der Dialekt der Wasserchinesen sein. Anscheinend erklärte er ihnen, daß der fremde Arzt nun behandeln werde, aber er, Dr. Mei, werde immer dabeisein und jeden Handgriff überwachen. Das schien die Leute zu beruhigen. Sie blickten alle auf Dr. Merker, neugierig, abwartend, lauernd.
Für sie war unbegreiflich, daß ein europäischer Arzt in die Schwimmende Stadt kam und sie heilen wollte. Ein weißer Arzt gehörte an Land, in die Arztpaläste der Reichen, drüben in Kowloon oder in Hongkong. Weiße fuhren nur in buntbeflaggten Booten herum und bestaunten die Boat People wie seltene Tiere, fotografierten sie und schrien: »Very nice!« Wie kam eine ›Langnase‹ dazu, armen Kranken zu helfen?
»Fangen wir an?« fragte Dr. Merker. Das Elend, das sich vor ihm staute, war fast unerträglich. Um die Doktor-Dschunke lagen die Sampans, mit denen die Kranken gekommen waren. Die Angehörigen warteten geduldig in den flachen
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