Der Dude und sein Zen Meister: Das Leben, die Liebe und wie man immer locker bleibt (German Edition)
das alles auch er selber war: die mörderischen Wachen, die sadistischen Kapos – sie alle waren Teile von ihm und uns allen. An irgendeinem Punkt musst du entscheiden, ob du die Menschen lieben oder hassen willst, und er beschloss, sie zu lieben.
Marian machte eine totale Verwandlung durch, weil er von einem fünfzig Jahre währenden Zeitraum, in dem er mit niemandem über Auschwitz sprach, dazu überging, rückhaltlos Zeugnis abzulegen. In einigen seiner Zeichnungen sieht man den jungen Marian, wie er den alten Marian hält und ihm hilft, weiterzuzeichnen. Viele Leute sprechen von großer Kunst, Marian jedoch nannte es nur sein Zeugnis.
Er starb etwa einen Monat vor unserem im November stattfindenden jährlichen Auschwitz-Retreat. Vorher sagte er seinen schönen Frau Halina noch, er wolle, dass seine Asche während unseres Retreats in Birkenau verstreut werde. Sie kam, begleitet von einigen älteren Überlebenden des Lagers, mit der Asche, und während sie dastand mit Blick auf einen der Krematoriumsplätze, sagte sie, Marians letzte Worte zu ihr seien gewesen: »Wo Liebe ist, gibt es keinen Tod.«
JEFF: Man begegnet auch Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben und sehr zornig sind.
BERNIE: Selbstverständlich.
JEFF: Es gibt also zwei Wege, die Menschen einschlagen können, wenn sie etwas so Schreckliches erleben, den des Zorns und den des Nicht-Zorns?
BERNIE: Es gibt auch jede Menge andere Gefühle, vor allem das Gefühl der Schuld. Erinnerst du dich noch an die Aids-Epidemie, als so viele ihre Lebenspartner verloren? Erinnerst du dich, wie deprimiert und voller Schuldgefühle sie waren, weil ihre Partner gestorben waren und nicht sie selbst? Wir haben in Yonkers, New York, viel mit Aidskranken gearbeitet und das sehr häufig erlebt.
JEFF: Meine Mom und mein Dad hatten vor mir ein Baby, das Gary hieß und an plötzlichem Kindstod starb. Ich kam ein Jahr später auf die Welt. Meine Mutter muss ungeheuer mutig gewesen sein, sich gleich wieder in den Sattel zu schwingen und ein weiteres Kind zu bekommen. Viele sehen Kinder ja als eine Art von Weg zur Unsterblichkeit an. Sie dagegen meinte, dass sie uns mehr an unsere Vergänglichkeit erinnern. Wenn du ein Kind hast, hast du ein zweites Paar Augen, ein zweites Herz, das du mehr liebst als dein eigenes, aber du hast keine Kontrolle darüber. Es verlangte also beträchtlichen Mumm von ihr, erneut so viel Liebe in jemanden zu investieren, der ja ebenso sterben konnte wie Gary.
Seit sie achtzehn war, führte sie Tagebuch und schrieb jeden Tag ihres Lebens hinein. Als wir, ihre Kinder, einundzwanzig wurden, schrieb sie eigenhändig ab, was sie in ihren Tagebüchern über jeden von uns notiert hatte, und schenkte es uns zu unserem Geburtstag. So hat jeder von uns seine eigene Geschichte, gesehen durch die Augen unserer Mutter, und zwar seit einem Zeitpunkt, an dem er noch nicht mal gezeugt war.
Als sie achtzig wurde, versammelte sie die Familie um sich: »Ich will euch etwas sagen. Ich hab euch zu jedem Geburtstag Gedichte geschrieben, aber nie habe ich ein Geburtstagsgedicht für Gary geschrieben. Nie hab ich ihm etwas geschenkt.« Im Alter von achtzig Jahren verriet sie uns etwas von dem Schmerz und der Schuld, die sie während all der Jahre empfunden hatte. »Euch fällt sicher auf, da auf dem Kaminsims haben wir Beaus Kinderporträt und das von Jeff und das von Cindy. Und hier ist nun ein Porträt, das ich von Gary gemalt habe, um es neben die seiner Brüder und seiner Schwester zu hängen.«
Spät in ihrem Leben wuchs sie also noch immer. Als sie um die neunzig war, beschloss sie, Buddhistin zu werden. Mein Freund Dawa wurde ihr Lehrer. Ich erinnere mich noch, wie ich sie zu einem seiner Vorträge mitnahm. Als er zu Ende gesprochen hatte, bat er um Fragen. Meine Mutter hob die Hand, Dawa rief sie auf, und sie schrie aus Leibeskräften: »Worte, Worte, Worte!« Und Dawa meinte: »Ja, Dorothy, ganz genau.«
BERNIE: Meine Mutter starb an Krebs, als ich sieben Jahre alt war. Wir waren arm; sie war eine Einwanderin aus Polen, die nur ungern zu Ärzten ging, wie mir meine älteren Schwestern erzählten. Als sie schließlich einen Arzt aufsuchte, war es schon zu spät. Und als sie endlich ins Krankenhaus kam, erlaubte die Klinik mir nicht, sie zu besuchen. Meine Schwester brachte mich hin und stand mit mir auf dem Bürgersteig, und meine Mutter winkte mir dann von einem Fenster im vierten Stock herab zu. Sie starb etwa drei
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