Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
dienten dazu, den Kriegern Mut zu machen und sich von denen zu verabschieden, die am nächsten Tag nicht mehr unter ihnen weilen würden. Je öfter man solche Reden hörte, desto schneller durchschaute man sie. Für die Gefolgsleute von Narik schien dies die erste Ansprache zu sein. Sie hingen an seinen Lippen wie junge Kätzchen an den Zitzen ihrer Mutter.
»Gleich wird er so etwas sagen wie: Der Tag ist gekommen, an dem wir unser Recht einfordern. Ich kann den Sieg förmlich spüren. Folgt mir, Männer!«, sagte Dorn zu Senetha und erntet dafür einen bösen Blick von dem Kerl neben ihm.
Narik hob die Arme, wie er es immer tat, wenn er seine Zuhörer dazu bringen wollte, eine Dummheit zu tun.
»Heute Nacht wird sich entscheiden, ob wir bereit sind, uns von den Fesseln des Glaubens zu lösen. Aber eins verspreche ich euch, falls wir scheitern sollten, wird Zargenfels brennen und die Tempel mit ihr.«
»Er ist noch verrückter, als ich dachte«, brummte Dorn.
Stimmen wurden laut. Jemand rief: »Tot den Regorianern!«, ein anderer: »Brennt die Tempel nieder.« Alle redeten aufgeregt durcheinander und versuchten, sich Mut zu machen und gegenseitig anzustacheln.
Narik gebot ihnen, Ruhe zu bewahren.
Dorn zog Senetha unsanft beiseite.
»Wenn wir gleich hinausgehen, bleibst du die ganze Zeit in meiner Nähe. Hast du gehört? Diese Rebellion wird kein gutes Ende nehmen, das spüre ich. Die Gemüter sind zu aufgeheizt. Ich habeso etwas schon gesehen, und ich weiß, dass sie sich nur mit Stahl und Blut abkühlen lassen. Ich fände es gut, wenn es nicht unser Blut ist, das heute Nacht vergossen wird.«
Senetha schien Dorns Befürchtungen langsam zu begreifen. Sie waren in etwas hineingeraten, das sich verselbstständigt hatte und das sie nicht mehr kontrollieren konnten. Sie nickte.
»Lasst uns nicht weiter wie Ratten hier im Keller hocken. Heute Nacht fordern wir unser Recht auf den Straßen dieser Stadt«, verkündete Narik. »Wir werden unsere Kräfte auf dem alten Handwerksmarkt vereinen und uns mit guten Waffen ausrüsten. Danach wird es keiner mehr wagen, sich uns in den Weg zu stellen. Es ist an der Zeit, die Knechtschaft der Regorianer ein für alle Mal abzuschütteln. Auf zum Markt, sage ich!«
Mit diesem Aufruf setzte sich die Meute in Bewegung und drängte sich über die schmale Kellertreppe ins Freie. Das Getümmel war so groß, dass einige von den Nachfolgenden einfach zur Seite gestoßen wurden und von der geländerlosen Treppe stürzten. Doch unten erwarteten sie nur weitere Rempler und Ellenbogenhiebe von erbosten Mitstreitern.
Dorn hielt Senetha zurück, die versuchte, den Anschluss an Narik und seine beiden Vertrauten nicht zu verlieren.
»Lass ihn, er wird uns schon nicht davonlaufen. Sieh dir lieber die Männer an, mit denen du Seite an Seite in eine Straßenschlacht ziehen willst. Sie sind sogar zu undiszipliniert, um aus einem Keller zu marschieren. Gib ihnen Waffen in die Hand, und sie werden sich gegenseitig aufspießen.«
»Es sind einfache Leute«, versuchte Senetha zu erklären, doch Dorn winkte ab.
»Es waren einfache Leute, aber jetzt haben sie sich entschieden, sich für eine Sache zu begeistern, die sie nicht begreifen. Das sind die Männer, denen du während eines Kampfes vertrauen willst. Sieh sie dir an, andere wird es nicht geben.«
Senethas Blick verfinsterte sich. »Gib ihnen eine Chance«, bat sie.
»Von mir aus gern«, sagte Dorn, »aber die Regorianer werden es bestimmt anders sehen.«
So langsam löste sich das Gedränge auf, und Dorn und Senetha stiegen aus dem Keller hinaus auf die Straße. Noch immer konnte Dorn nicht erkennen, wo sie waren, erst als er die Türme in der Ostmauer erblickte, kam seine Orientierung zurück. Wie eine Prozession schritten sie durch die nächtlichen Straßen. Von Wachen und Regorianern war nichts zu sehen, selbst hinter den meisten Fenstern brannte kein Licht mehr.
Zwei Straßen später stieß eine weitere Gruppe Rebellen zu ihnen. Die fast fünfzig Mann starke Truppe sah keinen Deut besser aus als die Männer, mit denen Dorn und Senetha umherzogen. Schneider, Kesselflicker und Schreiberlinge waren wenig überzeugend, wenn sie mit grimmigen Gesichtern, fest entschlossen jeden Gegner zu zermalmen, ihre Besenstiele umklammerten.
Narik und seine Begleiter führten die Rebellen durch mehrere kleine Gassen, um nicht am Osttor vorbei zu müssen. Und so kamen sie unbehelligt am alten Handwerksmarkt an. Die Wagen der Händler waren kaum zu
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