Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Über all den Tumult und das Gebrüll hinweg erscholl eine klare tiefe Stimme.
»Jetzt wird es sich entscheiden!«, brüllte Narik. »Zeigt ihnen, dass wir uns nicht einfach beugen werden. Wenn wir fallen, fällt diese Stadt mit uns. Nieder mit der Tyrannei des Glaubens. Tod den Tyrannen!«
Bevor der Halbling sich entschieden hatte, welche Rolle er auf dem Schlachtfeld einnehmen sollte, packte ihn Dorn und warf ihn sich über die Schulter. Er rannte los, auf die Südmauer zu. Senetha folgte ihm.
Im Schatten der Stadtmauer angekommen, setzte Dorn den Halbling ab. Mit dem Finger deutete er auf den kleinen Kerl und wollte ihn gerade fragen, wie er an Nariks Männer geraten war, als sich, keine dreißig Fuß von ihnen entfernt, eine Tür in der Mauer öffnete. Sie diente den Wachen als Zugang zum Wehrgang.
Dorn fuhr herum und rannte auf den Mann der Stadtwache zu, der gerade aus der Tür trat, packte ihn an den Armen und schleuderte ihn herum. Der junge Soldat krachte gegen die Wand, versuchte sein Schwert aus der Scheide zu ziehen, doch da rammte Dorn ihm bereits sein Knie unters Kinn. Bewusstlos brach der Soldat zusammen.
Senetha griff sich die Hand des verängstigten Halblings und zog ihn mit sich. Im Nu waren sie im Inneren der Stadtmauer.Dorn folgte. Er wollte die Tür hinter sich zu ziehen, doch da stellte jemand einen Fuß in den Spalt.
Dorn griff durch den Spalt und bekam einen Mann zu fassen. Es war einer der Rebellen, ein schmächtiger Typ um die fünfzig.
»Lasst mich los, Dorn«, wimmerte er.
»Such dir einen eigenen Stein, unter dem du dich verkriechen kannst, Schreiberling«, schnauzte er zurück. »Oder noch besser, geh zurück zu deinen Kumpanen und lass dich wie die anderen abschlachten. Ihr ward doch ganz versessen auf diese Rebellion. Da habt ihr sie.«
Dorn wollte den Mann zurückstoßen, doch dieser klammerte sich an seinem Mantel fest.
»Lasst mich rein«, flehte er. »Ich kann Euch helfen. Ich habe gehört, was der Herr Halbling gesagt hat. Ceeth mùe fammamè, es bedeutet: Die …«
»Die Suche der Mutter«, kam ihm Senetha zuvor. »Dafür braucht es keinen Gelehrten. Du siehst also, du kannst uns nichts sagen, was wir nicht schon wissen.«
Dorn versuchte immer noch, den Mann, der wie eine Klette an ihm hing, abzuschütteln.
»Was Ihr nicht wisst, ist, dass Ceeth mùe fammamè ein Buch ist. Und ich weiß, wo Ihr es finden könnt.«
23. RUBINIA
Als Rubinia die Augen öffnete, war die Sonne bereits aufgegangen, und ihr Licht brach sich in den farbigen Scherben der Bleiglasfenster. Rubinias Glieder waren ganz steif geworden, und ihr Hintern tat vom Liegen auf der hölzernen Kirchenbank weh. Gunder und Oda hatten darauf bestanden, dass sie sich ausruhte, anstatt wie die anderen Erwachsenen abwechselnd Wache zu schieben. Oda hatte ihre Wunden erneut versorgt und ihr einen übel schmeckenden Tee gekocht, der sie hatte einschlafen lassen, bevor sie die Tasse ausleeren konnte. Ihr Schlaf war so tief und fest gewesen, dass sie nicht einmal geträumt hatte. Seit zehn Stunden warteten sie nun verschanzt im Tempel. Die Untoten hatten sich nicht mehr gerührt. Man konnte fast vergessen, dass sie da waren.
Mira Butterblums und Suse Findlings spielten mit den Kindern in der Nähe des Taufbeckens Eichelschnippen. Alle saßen in einem Kreis und versuchten, ihre eigene Eichel möglichst nah an die Kastanien heranzubringen. Obwohl die beiden Frauen sich allergrößte Mühe gaben, die Kinder bei Laune zu halten, war die Stimmung gedrückt.
»Wir sollten hinausgehen und versuchen, mit ihnen zu sprechen«, schlug Hams Furtfuß, der Bruder von Nubert, gerade vor. »Immerhin leben wir seit vielen Jahren mit den Zwergen in Nachbarschaft, und bislang konnten wir uns immer friedlich mit ihnen einigen.«
»Hams, sie haben Kinder und Frauen getötet. Sie haben deinen Bruder und seinen Hund auf dem Gewissen«, rief Gunder ihm ins Gedächtnis. »Sie sind nach Eichenblattstadt gekommen, um uns alle umzubringen. Ich glaube nicht, dass sie darauf aus sind, mit uns zu verhandeln.«
»Wir sollten erst einmal herausfinden, was sie überhaupt wollen«, mischte sich Wende Furtfuß ein, um ihrem Mann beizustehen.
»Ich kann euch sagen, was sie wollen«, sagte Oda, ohne den Blick von dem dreieckigen, fast durchsichtigen Stück Glas abzuwenden, durch das sie nach draußen sah. »Sie wollen uns alle abschlachten, mehr nicht. Es sind Wiedergänger. In ihnen ist weder Leben noch Verstand. Alles, was sie antreibt, ist
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