Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
anders. Das, was dort in der Gasse passiert ist, war kein Sieg. Wir hatten viermal so viele Männer wie die Regorianer, und wir haben sie überrascht. Dennoch hat nur eine Handvoll überlebt. Ein bitterer Sieg, würde ich sagen. Irgendwann, wenn jede Familie in Zargenfels einen Toten zu beklagen hat, wird ihr Kampfgeist brechen. Dann kommt der Augenblick, in dem das echte Massaker beginnt. Wir sind von einem Sieg so weit entfernt wie eine Kuh vom Fliegen.«
»Und, was schlägst du vor?«
»Abhauen, sobald wir die Möglichkeit haben. Versuchen, über die Mauer zu kommen, und das Weite suchen. Das hätten wir übrigens schon vor einer Woche tun sollen, bevor die Stadtwachen sich auf die Seite der Tempeldiener schlugen.«
Dorn verzichtete darauf, zu erwähnen, dass er dies schon einmal vorgeschlagen hatte. Senetha wollte nicht auf ihn hören. Die junge Magierin traf ihre Entscheidungen aus dem Bauch heraus, genau wie Dorn, doch sie stand für die Gerechtigkeit ein, Dorn für das Überleben.
»Bei der nächsten Gelegenheit«, flüsterte sie.
»Man kann sich Gelegenheiten auch schaffen«, verriet Dorn finster und griff an die Seite seines Schwertes. »Zwei gegen sechs ist ein gutes Verhältnis.«
»Untersteh dich«, zischte Senetha. »Sie sind unsere Freunde, auch wenn du das nicht so siehst.«
»Vor solchen Freuden hat mich mein Vater immer gewarnt.«
Dorn und Senetha leerten ihre Schüsseln mit Eintopf. Der Geschmack war erträglich, anscheinend hatte die Brühe sogar ein Stück Fleisch gesehen. Dorn hatte sich gerade zurückgelehnt und die Augen geschlossen, da stürmte ein junger Mann die Kellertreppe herunter und stieß abgehetzt zu ihnen.
»Ningoths Männer sind zurück«, keuchte er. »Sie sagen, dass die Regorianer Ningoth getötet hätten.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Narik mit besorgter Miene.
»Sie sind auf dem alten Handwerksmarkt an der Südmauer. Sie haben unterwegs ein paar Wagen mit Waffen und Rüstungen ergattern können und die Händler als Geiseln genommen. Rough sagt, wir sollen nach Sonnenuntergang zu ihnen stoßen und genügend Männer mitbringen, um die Waren aufzuteilen. Mit denWagen schafft er es nicht durch die Stadt, ohne von den Wachen oder den Regorianern gefasst zu werden. Angeblich stehen sie dort schon seit einem Tag, konnten aber noch keinen Kontakt zu uns aufnehmen.«
Narik wanderte in dem kleinen Raum nachdenklich auf und ab.
»Die Südmauer ist genau richtig für unsere Pläne«, flüsterte Dorn seiner Gefährtin zu. »Wenig Wachen und dahinter viel Buschland, um schnell abzutauchen.«
Senetha nickte, aber in ihrem Gesicht erkannte er Zweifel.
»Und da ist noch etwas«, sagte der Kundschafter. »Rough hat einen Halbling bei sich, der einen Ring trägt, auf dem dasselbe Zeichen ist wie auf dem Amulett der Magierin.« Der junge Mann zeigte auf Senetha.
Narik blieb stehen, und Dorn glaubte, die Andeutung eines Lächelns auf dem Gesicht des blinden Mannes erkennen zu können.
»Trommel so viele zusammen, wie du kannst«, sagte Narik zu dem Kundschafter. »Wir treffen uns um Mitternacht auf dem alten Handwerksmarkt an der Südmauer.«
Der junge Mann nickte und eilte davon.
»Das ist ein Zeichen«, verkündete Narik seinen Männern. »Seht ihr es? Wir sind nicht allein. Auch die anderen Völker haben die Macht des Symbols erkannt. Vielleicht ist diese Rebellion schon weit über die Stadtmauern hinausgetragen worden.«
»Er tut so, als ob er dieses Ding persönlich geschmiedet hätte. Dabei kennt er noch nicht einmal seine Bedeutung«, flüsterte Dorn.
»Aber vielleicht weiß dieser Halbling mehr«, sagte Senetha. »Das kleine Volk kennt viele alte Geschichten und Lieder. Niemand schmückt sich ohne Grund mit solch einem Symbol.«
»Niemand außer dir«, gab Dorn zu bedenken.
Mit der Abenddämmerung waren Wolken aufgezogen, die das schwache Mondlicht erstickten wie ein Kissen auf dem Gesicht eines Sterbenden. Mittlerweile waren es fast drei Dutzend Rebellen, die sich in dem engen Keller versammelt hatten. Die Luft war stickig, und die Stimmung aufgeheizt. Narik gab sich alle Mühe, die Männer und Frauen anzustacheln. Pausenlos erzählte er von der Ungerechtigkeit, die den Bürgern von Zargenfels widerfahren würde, und wie mächtig die Rebellen sein könnten, wenn sie zusammenhielten und sich nicht von Rückschlägen entmutigen ließen.
Dorn kannte solche Reden nur zu gut. Meist wurden sie von irgendwelchen Feldherren in der Nacht vor dem Kampf gehalten. Sie
Weitere Kostenlose Bücher