Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
kaum drei Fuß große, äußerst quirlige und zumeist gut gelaunte Völkchen schien nahezu jeden Ort der Welt mit seiner Freundlichkeit und Offenherzigkeit zu erhellen – so auch den Düsterkrallenwald.
Halblinge waren dafür bekannt, mit sich selbst wie auch jedem anderen gut zurechtzukommen. Es gab immer etwas zu reden, zu lachen oder einen Grund, ein Liedchen anzustimmen. Und wer gerade einmal nichts zu sagen hatte, saß einfach nur in seinem Vorgarten, rauchte ein Pfeifchen und sah den Pflanzen beim Wachsen zu. Es gab jedoch auch einiges, dass Halblinge gar nicht schätzten. Eines davon waren Abenteuer und Leute, die sich gern mit Geschichten über eben solche wichtig machten. Ein Sprichwort des kleinen Volkes lautete: Warum soll man nach Wundern in weit entfernten Ländern suchen, wenn sie bei einem im Vorgarten wachsen.
Eichenblattstadt schien jedenfalls wie der letzte glühende Funken Frohsinn inmitten eines düsteren Landstriches voller dunkler Geheimnisse und mit einer finsteren Vergangenheit, wenn es nicht diesen Eklat um den Bau eines Brunnens gegeben hätte. Es war vor nicht ganz einem halben Zyklus, als die Streitereien ihren Anfang nahmen. Mit Beginn des einsetzenden Frühlings kam neue Kraft in die Pflanzen; die Wurzeln förderten wieder Feuchtigkeit in die neuen Triebe der Bäume, und zarte Blattsprossen entwickelten sich.Nur bei der großen Eiche im Zentrum des Marktplatzes tat sich nichts. Zuerst wunderte man sich nur, dann rätselte man herum. Schon bald wurden die ersten Theorien geäußert und wenig später die ersten Pläne zur Rettung des Baumes geschmiedet. Einige sagten, der nahe gelegene Brunnen sei schuld am Kränkeln des Wahrzeichens, andere behaupteten, das Wasser sei verseucht, und wiederum andere meinten, Bäume stürben eben einfach irgendwann, und da machte der Lauf aller Dinge auch nicht vor Wahrzeichen halt. Die verschiedenen Pläne zur Gesundung der Eiche sowie dem Erhalt des Brunnens sorgten ebenfalls für einen allgemeinen Disput, der sich zu einer handfesten Fehde entwickelte. Manche wollten die Erde um den Baum austauschen und mit Ponydung anreichern, andere wollten die Elfen zu Rate ziehen, da sie das meiste Wissen über Bäume besaßen, und wiederum andere schlugen vor, die alte Eiche zurückzuschneiden, damit sie neu austreiben konnte. Die Gemeinschaft von Eichenblattstadt spaltete sich in verschiedene Lager auf. Erst langsam und schleichend, dann kam es zu den ersten Handgreiflichkeiten, bis vor drei Umläufen Frau Bollwerks, die Frau des Schmiedes und Verfechterin der Gift-im-Brunnen-Theorie, hinter dem Haus schwer verletzt aufgefunden wurde. Sie war bis dato immer noch nicht ansprechbar und hatte deshalb die Identität ihres Angreifers nicht preisgeben können.
Die Streitigkeiten waren spätestens ab diesem Zeitpunkt zu einem echten Problem und zu einer Zerreißprobe für die gesamte Dorfgemeinschaft geworden. Und das alles zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, denn die Vorbereitungen zum alljährlichen Kürbisfest standen bevor, und eigentlich hätte jeder alle Hände voll zu tun gehabt.
Nur zwei junge Halblinge profitierten von all dem Durcheinander, weil es von dem ablenkte, was sie den ganzen Tag so ausfraßen. Einer der meist zitierten Sätze in Eichenblattstadt war nämlich: »Habt ihr schon gehört, was Bonne und Milo wieder angestellt haben?« Vor einigen Monaten hatten sie zum Beispiel versucht, mit selbst gebauten Flügeln zu fliegen.
Bonne und Milo Blaubeers waren die zwei ältesten Sprösslinge von Gunder Blaubeers und seiner verstorbenen Frau Roswita. Neben den beiden Brüdern gab es noch neun weitere Geschwister im Abstand von einem bis zwei Jahren, fünf Jungs und vier Mädchen.
Die beiden Brüder hatten wegen ihrer ständigen Wettstreite miteinander eine zweifelhafte Berühmtheit in Eichenblattstadt erlangt. Jeden Tag aufs Neue forderten sie den jeweils anderen zu waghalsigen Mutproben heraus und brachten dabei nicht nur sich, sondern auch Außenstehende in Gefahr.
Ihr letzter Wettkampf war zugegebenermaßen etwas außer Kontrolle geraten. Bonne hatte damit geprahlt, wie ein Artist auf einem Seil vom Dach des Bürgermeisters bis zum Tempel balancieren zu können. Die Strecke betrug immerhin gute vierzig Schritt, und dazwischen lag das Grundstück von Nubert Furtfuß, einem unangenehmen Eigenbrötler mit einem Wachhund, der seinem Herrchen in nichts nachstand.
Bonne schaffte gerade einmal zwanzig Fuß, und das auch nur, weil er ohne
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