Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
versuchen, zu antworten. Der letzte zurechtweisende Redeschwall des Meisters in caryndischer Sprache war ihm in guter Erinnerung geblieben. Er hatte Tage gebraucht, um all die Worte, die er nicht kannte, nachzuschlagen und ihre möglichen Bedeutungen so zu ordnen, dass sie einen Sinn ergaben. Übrig blieben zwei Varianten. Die eine besagte, dass Schüler aufgrund ihrer Stellung und ihrem verminderten Wissensstand dem Lehrer nicht zu widersprechen hatten. Die andere verwies auf das Sprichwort: Wenn der Kopf dir keine Antwort liefert und der Bauch dir kein Gefühl vermittelt, nimmdir ein Herz und halte den Mund, sonst sieht dein Gegenüber die Dummheit in deinen Augen. Milo gefiel die erste Variante besser, Meister Gindawell nicht.
Heute war ein besonderer Tag. Keiner, der in die Geschichte eingehen würde, aber einer, der Milos Leben ein Stück vorantreiben würde – auch wenn es ein Leben war, das er nicht wollte. Er, Milo, durfte heute das erste Mal einer Ratsversammlung beiwohnen.
Die Auflagen, die er von Meister Gindawell in Bezug auf seine Verhaltensweise während der Sitzung bekommen hatte, schmälerte seine Vorfreude allerdings.
Er empfand es als nicht besonders elegant, während der ganzen Sitzung neben dem schweren Eichenportal zu stehen und sich nicht setzen zu können. Weiterhin raubte ihm das Gebot, nur als stiller Beobachter beizuwohnen, jegliches Gefühl von eigener Autorität. Zusammen mit noch einem weiteren Dutzend beschneidender Auflagen und dem Zwang, ein Mützchen in Form eines Papierschiffes zu tragen, kam Milo zu dem Schluss, dass zwischen ihm und dem Mobiliar nur ein einziger Unterschied bestand: Er durfte nach der Sitzung den Saal wieder verlassen. Dennoch würde er dabei sein, und die Ratsmitglieder würden ihn sehen. Das allein war Ehre genug … redete er sich ein.
Jeder in Eichenblattstadt kannte die Mitglieder, und jeder hatte mit ihnen schon zu tun gehabt. Es waren nicht die einzelnen Personen, die aus dem Bevorstehenden etwas Besonderes machten. Es war vielmehr die Tatsache, dass sie alle aufeinandertrafen und hinter geschlossenen Türen über das Schicksal der Stadt beratschlagten. Vielleicht war Schicksal auch etwas zu viel gesagt, schließlich ging es nur um Dinge wie die Laternen in den Wintermonaten länger brennen zu lassen als im Sommer, den Dachstuhl der Bibliothek erneuern zu lassen oder zu beratschlagen, ob es sinnvoll wäre, im Gasthaus das Starkbier der Zwerge auszuschenken. All das hatte unter Umständen etwas mit Schicksal zu tun, es war eben nur schwer zu erkennen.
Für den heutigen Tag hatte Meister Gindawell die Sitzung zusammengerufen. Er machte ein regelrechtes Geheimnis daraus, was der Anlass dafür war. Nur wenige Andeutungen waren bisher über seine Lippen gekommen, die Milo aber nicht genügend Aufschluss darüber gegeben hatten, um was es wirklich ging.
»Willst du nicht dein blaues Gewand überziehen, es regnet?«, fragte der Meister ihn rhetorisch, als ob Milo wirklich die Wahl hätte, sich in Bezug auf seine Garderobe frei zu entscheiden.
»Das blaue ist gut«, antwortete er wenig euphorisch.
Gindawell zupfte an seinem eigenen dunkelblauen Ornat herum. Er probierte verschiedene Versionen der Knüpfung, von halb offen bis dreiviertel geschlossen, von ganz offen bis zugeknöpft und wieder zurück. Das größte Augenmerk legte er dabei auf sein heiliges Symbol, das er an einer Kette um den Hals trug. Es war das Zeichen der Gottheit der Halblinge, der Göttin Cephei.
Es bestand aus einem Kreis, der von einem gegabelten Blitz durchzogen wurde. Die Gabelung stand für die Macht der Göttin Cephei, jemanden oder etwas zu erleuchten oder zu bestrafen. Blitze am Himmel waren ein Zeichen für ihre Anwesenheit, so wie der Donner der Hall ihrer Stimme war. Ein Halbling, der vom Blitz getroffen wurde und überlebte, galt als von Cephei persönlich heiliggesprochen. Im anderen Fall war es wohl eher als Bestrafung anzusehen.
Ab und zu kamen heilige Pilger nach Eichenblattstadt. Voller Stolz präsentierten sie die Narben, wo der Blitz sie getroffen hatte. Mit viel Theatralik erzählten sie von der Begegnung mit der Göttin, aber keiner von ihnen verkündete etwas, das als direkte Anweisung Cepheis verstanden werden konnte. Meister Gindawell hatte Milo erklärt, dass die Göttin jedem nur Fragmente ihres Willens preisgab, weil es den Verstand eines Sterblichen übersteigen würde, die komplette Botschaft entgegenzunehmen. Mit umso mehr Heiligen man gesprochen
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