Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
geschickt hatte. Er musste herausfinden, worin der Quell dieses Hasses aufeinander lag. Es musste etwas mit diesem Buch und den Göttern zu tun haben, wurde ihm bewusst. Und mit etwas Glück würde Milos Reise auch etwas Licht in die düstere Prophezeiung von Xumita Latorinsis, dem Goblinschamanen, bringen.
»Wollen wir sie nicht herunterholen?«, fragte Milo unsicher und versuchte dabei, den Toten nicht in die Gesichter zu sehen.
»Ich glaube nicht, dass sie sich dadurch besser fühlen würden. Außerdem sind sie eine gute Warnung für jeden, der hier durchkommt, diesen Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen.«
»Denkst du, die Männer, die sie gehängt haben, sind noch in der Nähe?«
»Vielleicht«, brummte Dorn. »Ich werde jedenfalls nicht lange genug hierbleiben, um es herauszufinden, und das solltest du auch nicht.«
Dorn trat seinem Pferd mit den Fersen in die Seite und trieb es so in den Galopp. Senetha folgte ihm. Der dichte Nebel verschluckte die beiden fast augenblicklich, bis nur noch die donnernden Hufe auf dem schmalen Schotterweg hallten.
Milo hatte immer noch seine Schwierigkeiten, das Pferd zu lenken. Er musste seine Arme ausstrecken, um die Zügel richtig halten zu können, und seine Beine reichten nicht bis zu den Flanken, um das Pferd im üblichen Maße anzuspornen. Bislang hatte immer ein Klaps auf den Hintern gereicht, um sein Reittier in den Trab zu versetzen, doch der Nebel und der Geruch des Todes verunsicherten das Tier. Anstatt loszutraben, scheute es und drehte sich unruhig schnaubend im Kreis.
»Komm schon, du störriges Vieh«, krächzte Milo und gab dem Pferd abwechselnd links und rechts leichte Klapse auf das Hinterteil. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mir zu zeigen, dass auch Pferde einen Willen haben.«
Das Tier blieb stehen, schnaubte und schabte nervös mit dem Huf auf dem Schotterweg.
Milo schaute auf die hingerichteten Männer, die in der leichten Brise hin und her schaukelten. Sie waren alle kräftige Kerle gewesen. Drei von ihnen hatten schwere Blessuren im Gesicht, und bei dem Mann in der Mitte schien die Schlinge nicht richtig gefasst zu haben. Der Knoten presste auf seinen Kehlkopf und saß nicht über dem Nackenwirbel wie sonst. Die Schlinge drückte seinen Kopf nach hinten. Unter der Nase und am Kinn hatten sich Blutkrusten gebildet. Es muss ein verzweifelter Todeskampf gewesen sein, dachte Milo. Die Augen des Toten waren weit aus den Höhlen hervorgetreten und die Finger seiner linken Hand waren merkwürdig verkrampft.
Er starrte Milo aus seinen toten Augen an, und Milo starrte zurück. Plötzlich öffnete der Gehängte den Mund und steckte seine blau angeschwollene Zunge heraus. Milo schrie auf, und das Pferd wich schnaubend drei Schritte zurück. Noch bevor er etwas tun konnte, packte jemand die Zügel seines Pferdes und riss es herum.
»Hast du keine Lust mehr, hinter uns herzureiten, oder möchtest du dich hier häuslich niederlassen? Von denen da hat bestimmt keiner was dagegen.«
»Er hat sich bewegt«, stotterte Milo und zeigte auf den Gehängten.
Dorn besah sich die Männer ein weiteres Mal.
»Das ist nur der Wind«, versuchte er den Halbling zu beruhigen.
»Sein Mund hat sich geöffnet, und er hat mir die Zunge herausgestreckt.«
»Na, was für eine Gemeinheit«, lachte Dorn. »Kein Anstand mehr unter den Toten. Der Tod ist für keinen eine einfache Sache. Die meisten liegen einfach nur da und verrotten, andere bewegen sich plötzlich oder stöhnen leise. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind kalt und tot und können dir nichts mehr anhaben.«
»Ich habe aber gesehen, wie er sich bewegt hat«, beharrte Milo.»Und das war nicht so etwas wie ein Reflex. Er hat mich angesehen und mir die Zunge herausgestreckt.«
»Kleine Männer, kleiner Verstand«, brummte Dorn ärgerlich und zog Milos Pferd einfach hinter sich her. Die Tiere mühten sich den steilen Schotterweg hinauf, der aus Ackerdorf führte. Oben am Rand des Steinbruches wartete Senetha auf sie.
Den ganzen nächsten Tag ritten sie stumm hintereinander her. Dorn hatte eine Strecke abseits der Wege gewählt. Alle vier Stunden machte er eine kurze Rast, doch schien es ihm mehr um die Pferde zu gehen als um seine Gefährten. Als sie mit Einbruch der Abenddämmerung das Hochmoor erreichten, hielt Dorn plötzlich an und stieg ab.
»Was, schon wieder eine Pause?«, höhnte Milo. »Wir hatten doch erst heute Morgen einen Schluck Wasser und einen Kanten Brot. Nicht
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