Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
sind, nicht einen einzigen von ihnen gesehen«, gab Oda zu bedenken. »Sie hätten uns doch wahrscheinlich angegriffen, so schutzlos und so langsam, wie wir vorangekommen sind.«
»Erinnere mich bloß nicht daran«, zischte Rubinia. »Ich weiß nicht, was mit den Eichenblattstädtern los ist, aber sie benehmen sich schlimmer als eine Horde Tunnelgnome. Wir haben fast zwei Tage für eine Strecke gebraucht, die ich allein in einem halben hinter mich gebracht hätte. Erst wollten sie ihre Wasservorräte auffüllen, weil ihnen das Wasser im Brunnen nicht gut genug war, dann wollten sie Beeren und Pilze sammeln, um ihre Vorräte aufzustocken. Als das endlich geklärt war, wollten sie plötzlich eine andere Route zur Schlucht nehmen, und als wir zustimmten, waren sie erschöpft vom vielen Herumirren und mussten Rast machen. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, ein General zu sein, der Hunderte von Kriegern in die Schlacht führt. Hätte ich gewusst, wie das ist, hätte auch ich mir gewünscht, eine Elfenprinzessin zu sein wie alle anderen Mädchen im Dorf.«
Oda kicherte, aber als Rubinia das Halblingsmädchen ansah, erkannte sie, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen.
»Ich musste immer der böse Trollkönig sein«, schniefte Oda, »damit meine Brüder mich erschlagen konnten.«
»Und was waren deine Brüder?«
»Sie waren einfach nur Nelf und Tislo, zwei Jungen aus einem kleinen Dorf. Ich wünschte, sie wären jetzt hier bei uns. Sie hätten keine Angst.«
Rubinia strich ihrer jungen Begleiterin durch das lange braune Haar.
»Es geht ihnen bestimmt gut«, sagte sie. »Die Zwerge sind zwar ein Haufen rauer und übellauniger Kerle, doch sie sind keine Unholde.«
Oda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Nein, der Unhold war immer ich. Hast du schon mal einen Troll gesehen?«
Rubinia nickte.
»Wie sieht er aus?«
»Wie ein alter knorriger Baum – bis er sich bewegt.«
Oda robbte eine Armlänge den Ameisenhügel hoch und warf einen vorsichtigen Blick über die Kuppe.
»Vielleicht ist es besser, wir beobachten die Schlucht noch etwas länger«, flüsterte sie.
Nach einer weiteren Stunde des Lauerns hatten die beiden immer noch keine Hinweise auf Orks, Goblins oder Trolle entdecken können und entschlossen sich, die Bürger Eichenblattstadts noch vor Einbruch der Dunkelheit hinunter in die Schlucht zu bringen. Ob dort unten Gefahren lauerten, würden sie erst wissen, wennsie mit dem Abstieg begonnen hatten. Rubinia kannte die Seufzerschlucht wie auch die Krähenschlucht gut genug, um sagen zu können, dass ein einfacher Blick hinein nicht reichen würde, um dort unten etwas auszumachen. Es war wie das Meer: Ein Blick übers Wasser verriet einem nicht, was alles unter der Oberfläche lauerte.
Sie zogen sich von ihrem Posten zurück und schlugen sich in das Dickicht des Waldes, wo eine halbe Meile südlich die restlichen Halblinge lagerten. Natürlich kam es wieder zu den üblichen Streitereien zwischen den Männern und Frauen des Dorfes, doch diesmal unterband Rubinia jeden aufkommenden Zank durch schroffes Eingreifen, das sie sich selbst nicht zugetraut hatte.
»Du warst als Kind bestimmt ein guter General«, flüsterte Oda ihr zu, als alle anderen eingeschüchtert Rubinias Aufruf folgten und sich abmarschbereit machten.
Im Gänsemarsch führte Rubinia die anderen zur Schlucht. Es herrschte eine angespannte Stille zwischen den Eichenblattstädtern. Rubinia spürte, dass sie sich zu gern ihren Anweisungen widersetzt hätten, doch fehlte es ihnen anscheinend an Alternativen.
Als Rubinia das letzte Mal in die Schlucht geblickt hatte, war sie noch ein junges Mädchen gewesen. Sie erinnerte sich genau an den Tag. Es war der Blattwandeltag, und die Bürger Eichenblattstadts zogen aus in den Wald, um die Pilzsaison einzuläuten. Die ganze Familie Blaubeers war mit Ponys und Karren weit in den Norden des Waldes gereist, um in der Nähe der Schlucht nach Blutmorcheln und Steinpilzen Ausschau zu halten. Da heranwachsende Mädchen aber nur meist wenig Interesse für das Pilzesammeln aufbringen, nutzte Rubinia die Zeit dazu, wildes Löwenmaul zu pflücken und sich daraus einen Haarkranz zu flechten. Damals hatte sie zum ersten Mal gedachte, dass der Name »Seufzerschlucht« viel zu harmlos und niedlich war für einen Riss in der Erde, der so tief und finster war, dass man hätte denken können, er reichte bis zum Mittelpunkt der Welt. Dieser Eindruck hatte sichnoch immer nicht geändert. Wie das
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