Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
oben in den Bäumen verrieten ihnen, dass sie da waren. Und sie beobachteten sie.
Milo fiel auf, dass das dichte Blätterdach keinen einzigenLichtstrahl hindurchließ, und dennoch war es hell und freundlich im Wald der Elfen. Er vermied es, etwas dazu anzumerken, da er befürchtete, abermals diesen eisigen Unterton in der Antwort herauszuhören. Ihm war klar, sie waren Gefangene, doch er musste es nicht ständig aufs Hefebrot geschmiert bekommen. Falls sie das hier alles heil überstanden, würde Dorn schon dafür sorgen, dass er nicht vergaß, wem sie das alles zu verdanken hatten.
Nicht viel später erreichten sie eine Lichtung, in dessen Mitte ein Fels von gut zwanzig Fuß Höhe aus der Erde ragte. Ein Teil des Steins war abgetragen und die Oberfläche glatt behauen und poliert worden, sodass er aussah wie ein Tisch oder Altar. Die Lichtung selbst maß ungefähr dreihundert Schritt im Durchmesser, und im Norden lag ein kleiner Hain mit Bäumen, deren Rinde schwarzweiß gemasert war. Im Gegensatz zu den Seelenbäumen wirkten sie eher klein und fast kahl. Dies mussten die Weißrindenbäume sein, das eigentliche Ziel dieser Reise.
Auch diese hatte Milo sich anders vorgestellt. Sie sahen aus wie die Bäume, die Kinder auf ihren Bildern malten. Die Stämme waren kerzengerade, die Äste nur wenig verzweigt, außerdem zu dick, und die wenigen kreisrunden, dunkelgrünen Blätter machten den Anschein, als hätte sie jemand hineingehängt, damit das Bild etwas lebendiger wirkte.
»Dort«, zischte Milo seinen Gefährten zu. »Wir sind am Ziel.«
»Glaube mir, kleiner Mann«, sagte Dorn, »wenn ich dir sage, dass wir noch keinen Deut näher sind als zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns entschlossen haben, hierherzureisen. Wir haben vielleicht Wegstrecke geschafft, aber zwischen uns und den Bäumen stehen immer noch die Elfen.«
»Das alles ist ein Missverständnis, das werden sie begreifen, wenn wir ihnen erklären, warum wir gekommen sind«, sagte Milo so laut, dass es jeder verstehen konnte. »Wir haben ihnen nichts getan.«
»Die Zwerge wahrscheinlich auch nicht«, brummte Dorn ebenfalls laut genug.
Die Elfen forderten sie auf, stehenzubleiben, was Milo als willkommene Abwechslung empfand und sich hinsetzte. Ein leichter Schlag mit einem Speerschaft in den Rücken überzeugte ihn davon, dass er auch im Stehen warten konnte.
Die drei standen nur einen Steinwurf entfernt von dem Felsenaltar. Milo konnte einen kleinen Gegenstand darauf erkennen. Es sah aus wie ein gekrümmter Zweig oder ein geflochtener Haarkranz. Womöglich war es so etwas wie ein heiliges Symbol für die Elfen. Meister Gindawell hätte es bestimmt gewusst. Mit Sicherheit hätte er es gewusst und wieder in Rätseln gesprochen, wie er es gern getan hatte, und Milo wäre keinen Deut schlauer gewesen. Als Gindawell noch gelebt hatte, hätte Milo ihn dafür verfluchen können, doch jetzt, wo er tot war, vermisste er den alten Priester mit all seinen Macken und Angewohnheiten.
Er grübelte nicht weiter darüber nach, sondern bestaunte die Elfenstadt hoch oben über ihm. Es war fantastisch, was die Elfen hier geleistet hatten. Die Bauwerke verbanden sich mit den Bäumen, als wenn sie auf ihnen gewachsen wären. Alles fügte sich nahtlos aneinander, und nichts schien die Natur daran zu hindern, das zu tun, was sie wollte. Milo fiel auf, dass es keine Leitern oder Treppen gab, die hinauf in die Elfenstadt führten. Blätterheim wirkte wie eine Insel, an der kein Schiff anlanden konnte, weil nirgends ein Ankerplatz zu finden war.
Einen Moment später klärte sich die unausgesprochene Frage, wie die Elfen selbst hoch- oder hinunterkamen. Feine silberne Seile fielen von den Ästen hinab. Sie sahen aus wie winzige Sternschnuppen, die vom Himmel stürzten und einen Schweif hinter sich herzogen, der sichtbar blieb, bis sie die Erde berührten. Es waren Hunderte von Seilen, die die Bäume in ein glitzerndes Gespinst einwoben. Keines von ihnen berührte wirklich den Boden. Wie von Zauberhand blieb unter jedem Ende eine Handbreit frei, um funkelnd über dem dunkelgrünen Moos zu tanzen.
Dann glitten die ersten Elfen aus den Baumkronen die Seile herab. Sie sahen aus wie Tautropfen, die an den Fäden eines Spinnennetzes herunterliefen. Im Nu hatten sie den Waldboden erreicht und kamen von allen Seiten auf die Lichtung zu. Als sie nahezu einen perfekten Kreis um die Lichtung bildeten, blieben sie stehen. Nur einer der Elfen durchbrach den Kreis und schritt auf den
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