Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Alte da raus.«
Senetha sah nur das schmutzige Grinsen auf dem Gesicht des Mannes und wusste, dass es nicht so laufen würde, wie sie es sich vorgestellt hatte.
»Das ist es ja eben, Jorge. Es ist keine alte Schnepfe, sondern eher eine junge Wachtel. Wie fändest du es, wenn wir ihr gleich hier eine Lektion verpassen? Wäre doch schade drum, sie einfach nur in den Kerker zu schmeißen. Wenn sie dort wieder rauskommt, wird sie übersät sein mit Narben und blauen Flecken, dann will sie bestimmt keiner mehr. Ich finde, wir sollten den Apfel kosten, bevor er vom Baum gefallen ist.«
»Dann lass deine Wachtel mal sehen«, schnaubte die zweite Wache. Er schien jetzt direkt hinter seinem Kameraden zu stehen: »Ist sie blond oder dunkel?«
Entweder waren es Dorns Sinne oder sein Gespür dafür, wann ein Plan gescheitert war, der ihn aus seinem Versteck hervorspringen ließ. Er landete direkt vor dem Eingang, packte die vorn stehende Wache am ledernen Brustharnisch und zog sie zu sich heran. Der Mann war einen halben Kopf kleiner als der Krieger und hatte seiner Kraft nichts entgegenzusetzen. Mit dem Schwertknauf in der Hand schlug Dorn zweimal kurz hintereinander auf ihn ein, dann ließ er ihn fallen. Mit einem Satz war er über sein erstes Opfer hinweg und stürmte auf den anderen Mann zu, der immer noch vor dem Eingang stand und versuchte, einen Blick in die Gruft zu werfen.
Als er Dorn vor sich auftauchen sah, wollte er fliehen, was angesichts schlechter Bezahlung, miserabler Ausbildung und einer mangelhaften Bewaffnung auch sinnvoll schien. Eines konnte man den Stadtwachen in Zargenfels jedenfalls nicht nachsagen, nämlich dass sie schlechte Läufer waren. Wann immer es brenzlig wurde, versuchten sie, Reißaus zu nehmen und mit einer Übermacht zurückzukehren.
Dieses Wissen beflügelte auch Dorn. Mit einem halben Dutzend ausgreifender Schritte war er an den Wachsoldaten herangekommen und brachte ihn zu Fall. Ein Knie setzte sich auf den Hals des Mannes, während das andere in seinen Magen drückte. Dorn packte sein Opfer an den Haaren und schlug ihm eine harte Gerade ins Gesicht. Dann holte er ein zweites Mal aus, hielt jedoch in der Bewegung inne, als er feststellte, dass der Mann schon genug hatte. Enttäuscht ließ er den Kopf der Wache ins Gras sinken.
Als Dorn zurück in die Gruft kam, hockte Senetha über dem am Boden liegenden Wachsoldaten und verarztete ihn notdürftig.
»Du hast ihn am Kehlkopf getroffen. Er bekommt kaum noch Luft«, sagte sie. »Du solltest besser aufpassen, sonst bringst du eines Tages noch jemanden um. Was ist mit dem anderen?«
Dorn drehte sich kurz um und starrte über das dunkle Friedhofsgelände.
»Er liegt da vorn an der frischen Luft. Wenn er weiß, wie man durch den Mund atmet, wird er auch etwas davon abbekommen«, brummte er.
Senetha war sicher, dass Dorn sich nicht ausmalen konnte, wie sich ihr Leben in Zargenfels verändern würde, falls sie jemanden umbrachten. Doch selbst wenn, bezweifelte sie, dass es den Krieger mit Sorge erfüllt hätte. Dorn schien sich nicht viel aus seinem Leben zu machen, und so handhabte er es auch mit dem der anderen.
»Lass uns lieber verschwinden, bevor einer der beiden wieder zu sich kommt«, schlug Senetha vor. »Ein Schmuckstück haben wir jedenfalls. Mit etwas Glück gibt uns Odden so viel dafür, dass es für eine Woche langt.«
Dorn nickte grimmig und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen.
5. DER WISSENDE
Nur der schwache Schein einer Kerze erhellte die Dunkelheit. Der Docht versank immer tiefer im eigenen Wachs, und die umhüllende Schwärze schien nur darauf zu lauern, dem letzten Flackern ein Ende zu setzen.
Eine Hand huschte schnell über ein Stück Papier, um mit einem Federkiel einige kaum leserliche Worte darauf zu kritzeln. Der Schreiber, der vom Ellenbogen an in die Dunkelheit getaucht war, stippte den Kiel in ein Tintenfass ein und setzte seine Arbeit fort.
Bericht des Reisenden:
Tag 1391: Der Reisende ist zurück in seinem Heim. Keine weiteren Erkenntnisse.
Der Schreiberling hielt einen Moment inne. Eigentlich entsprach das nicht der Wahrheit, befand er. Ein Durchgang war kein Durchgang mehr, wenn man eine Tür davorsetzte. Und bei Windstille war eine Böe auch keine Böe mehr, genauso wenig wie ein Fluss nach dem Austrocknen noch ein Fluss war. Hinzu kam, dass sein Heim nur ein Gefängnis war, in dem er zu bleiben hatte, bis er stark genug war, es zu verlassen.
Es war schwer, über sich selbst zu schreiben,
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