Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
wenn man nicht man selbst war. Er war der Reisende, wenn er auf eine seiner Kundschafterreisen ging, um Neuigkeiten zu erfahren. Vor wenigen Jahren noch war er der Unreife gewesen, doch dies schien schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Sobald er sich in seinen Gemächern aufhielt, war er der Wissende. Und bald schon würde er der Lehrende sein. Er war alle diese Personen, und jede von ihnen begleitete ihn ein Stück seines Lebens. Er war froh, sie alle irgendwann zurücklassen zu können. Sie hatten alle wenig Anstand und Dinge getan, die ihn nicht gerade mit Stolz erfüllten. Und sie waren schwach. Aber er brauchte sie, um sein Ziel zu erreichen.
Er tauchte den Federkiel erneut in das Tintenfass.
Der Aufenthalt in den angrenzenden Königreichen gestaltet sich zunehmend schwierig. Die Menschen werden misstrauischer Fremden gegenüber.
Wieder hielt er einen Moment inne.
War er auch der Fremde? Er verwarf den Gedanken schnell wieder. Der Fremde war nur ein Pseudonym für jeden, den die Menschen nicht kannten, oder den er, der Wissende, nicht persönlich kannte, erinnerte er sich.
Er ermahnte sich zur Konzentration. Er musste diesen Bericht endlich fertig schreiben. Schließlich waren es nur ein paar Sätze. Belanglosigkeiten vielleicht, die sich aber später als wegweisend herausstellen könnten. Wenn er sie jetzt nicht aufschrieb, würden unter Umständen wichtige Details in Vergessenheit geraten.
Der Reisende konnte die Situation klären und hat alle Spuren beseitigt.
Erkenntnisse des Wissenden:
Tag 1391: In Eichenblattstadt ist es zu den ersten tragischen Zwischenfällen gekommen. Es besteht die Gefahr – er tauchte den Federkiel in das Tintenfass –, dass es zu ungewollter Aufmerksamkeit kommt. Der Wissende wird einen Bericht erstellen, sobald alle Einzelheiten vorliegen und ein Zufall ausgeschlossen werden kann. Empfehlung: Bei Eskalation wird das Problem dem Reisenden übergeben.
Der Wissende legte den Federkiel zur Seite, griff in die Dunkelheit und zog ein Glas Weißwein in den Schein der Kerze. Er betrachtete die Färbung einen Augenblick, überprüfte das Bukett und nahm einen zögerlichen Schluck.
»Beim Blute des Zweitgeborenen«, schnaubte er, »selbst als Geschenk ist diese saure Plörre nicht zu genießen. Der Reisende sollte sich lieber um die Schenken und Gasthäuser in der Graumark kümmern, wo dieses Zeug ausgeschenkt wird. Die Leute wären ihm auf ewig dankbar.«
6. RUBINIA
Rubinia Blaubeers stemmte die Hände in die Hüfte und betrachtete stolz das silberne Tablett mit dem angerichteten Frühstück für Meister Othman. Diesmal hatte sie sich selbst übertroffen, befand sie. Rührei, Speck, frischgebackenes Brot, eine Schüssel Heidelbeeren mit Milch, zwei Scheiben Schinken, ein Glas Pollenhonig und eine dampfende Tasse Fencheltee präsentierten sich auf dem spiegelblank polierten Untergrund.
In Rubinias schulterlangem braunem Haar hatten sich etwas Mehl und einige Teigreste verfangen, und an ihrer Schürze klebte ebenfalls etwas davon. Sie hätte ihr Haar lieber länger getragen, doch wegen der vielen schmutzigen Arbeiten im Krähenturm hatte sie darauf verzichtet.
»Du bist fast zu schade, um dich einfach nur zu essen«, flüsterte sie dem Stillleben zu, hoffte aber inständig, dass Meister Othman es nicht so sah.
Der Magier war ein großer, hagerer alter Mann, der spät zu Bett ging, früh wieder aufstand und wenig zu essen pflegte. Alles Angewohnheiten, die das Leben einer Haushälterin erschwerten. Doch abgesehen davon hätte sich Rubinia keine bessere Anstellung vorstellen können.
Vor elf Jahren war sie aus Eichenblattstadt weggegangen und hatte sich in die Dienste des Magiers gestellt. Den Krähenturm, so nannten sie den fast hundertachtzig Fuß hohen Turm, den Othman schon seit vielen Jahrzehnten bewohnte. Gerade einmal zwei Tagesreisen von Eichenblattstadt entfernt, aber immer noch mitten im Düsterkrallenwald versteckt, lag ihr neues Domizil, und als genau dieses betrachtete sie es auch. Natürlich war Meister Othman der Herr des Hauses, doch bei Rubinia führten alle Fäden zusammen, und sie verstand es, sie zu ziehen.
Der Magier war wenig an weltlichen Dingen interessiert, und erst recht an keinen, die sich mit Feudeln, Besen und Löffeln bearbeiten ließen, oder die das Mysterium des Lebens in schnöden Alltag verwandelten. Dafür hatte er Rubinia und ein gutes Dutzend anderer kleiner Helfer – die Tunnelgnome.
Rubinia warf noch einen letzten verträumten
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