Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Kleinod aus seinem morschen Versteck befreit und betrachtete es verwundert. Der Kristall schien ein wenig geschrumpft, und außerdem war die hellblaue Färbung leicht getrübt. Im Gegensatz zu dem, mit dem sie diesen ersetzen sollte, sah er aus wie ein Stück verdorrtes Obst. Rubinia ließ den einen im Stumpf verschwinden, den anderen steckte sie in die Tasche ihres Hosenrockes. Dann machte sie sich auf zum nächsten Kristall.
Bei jedem Schritt gab sie acht, nicht auf dem durchweichten Waldboden auszurutschen. Umziehen, waschen, Kleidung zum Trocknen aufhängen, neue Sachen raussuchen und womöglich noch die Haare durchspülen stand heute nicht auf ihrer vollen Liste, und deshalb gab sie sich alle Mühe, dass dies auch so blieb.
Rubinia war beim letzten Versteck im Südwesten angekommen. Es war bereits später Vormittag. Zwischen den Baumwipfeln hindurch erkannte sie die Spitze des Krähenturms. Direkt dahinter stand die Sonne, die durch den wolkenverhangenen Himmel das Bauwerk wie eine Silhouette aus Pappmaschee erscheinen ließ.
Schnaubend wandte sich Rubinia ihrem eigentlichen Ziel zu. Was zuvor wie ein ideales Versteck erschienen war, entpuppte sich plötzlich als zweit- oder drittklassig. Ein Astloch in sechs Fuß Höhe war vielleicht nicht der sicherste Platz, doch schützte er vor den meisten neugierigen Blicken. War man jedoch ein Halbling, und hatte der Regen die Rinde des Baumes aufgeweicht und rutschig werden lassen, war es so gut wie unmöglich, diese Stelle zu erreichen. Noch letzten Monat war es ein Kinderspiel für Rubinia gewesen, an dem alten Eichenstamm hinaufzuklettern, doch jetzt war es schier undenkbar. Etliche Male verloren ihre nackten Füße den Halt, bevor sie mit der Hand in das knorrige Astloch fassen konnte. Mit jedem Versuch wurden ihre Sachen schmutziger und sie ärgerlicher.
Rubinia wagte einen letzten Versuch mit drei Schritten Anlauf. Sie stieß sich vom Boden ab, setze einen Fuß gegen den Stamm und hechtete der kleinen Aushöhlung entgegen. Mit einer Hand bekam sie den Rand des Astloches zu packen und klammerte sich daran, während sie mit der anderen blitzschnell in die Aushöhlung griff. Rubinia bekam den Splitter zu fassen, doch im selben Moment, als sich ihre Finger um den Kristall schlossen, rutschte sie ab.
Ihr Füße und Hände schabten schmerzhaft über die rissige Borke. Sie versuchte, sich aufrecht zu halten. Mit einem Fuß bekam sie die Ausläufer einer Wurzel zu fassen und stemmte sichdagegen. Das nasse Moos ließ sie abermals den Halt verlieren, sie kippte nach vorne, schlug mit dem Kopf gegen den Stamm des Baumes und verlor kurzzeitig die Besinnung.
Ein bösartiges Knurren holte sie zurück in ihre Welt. Sie konnte nicht lange bewusstlos gewesen sein, ihre Kleidung war nicht vollständig durchnässt, und es regnete immer noch. Doch anscheinend war es lange genug gewesen, um einige ungebetene Gäste des Waldes anzulocken. Rubinias Sinne hatten sie hochschrecken lassen, doch ihre Muskeln wirkten wie gelähmt. Mühsam stemmte sie sich auf und versuchte, Halt zu finden. Das Knurren nahm zu, und hinzu gesellten sich schnüffelnde Laute, die von kurzen Niesanfällen unterbrochen wurden.
Rubinia schlug die Augen auf und starrte in das weißschwarze Gesicht eines Reißers. Diese Tiere, halb Dachs, halb Wolf, führten im Düsterkrallenwald ein nahezu unbekümmertes Leben. Ansonsten fast vollständig ausgerottet durch Jäger, die es auf die wertvollen Felle abgesehen hatte, war dies ihre letzte Zufluchtsstätte. Die Reißer wurden aber nicht nur ihrer Felle wegen gejagt, sondern auch wegen ihres aggressiven Verhaltens. Reißer nannte man sie, weil sie sich in ihrer Beute verbissen und sich dann so lange drehten und an dem Opfer zerrten, bis sie ein Stück Fleisch herausgerissen hatten. Menschen gehörten nicht zu ihrer Beute, aber viele Kühe, Schafe und Pferde waren durch ihre Attacken elendig im Stall oder auf der Weide verendet.
Der Reißer fletschte die Zähne und machte einen Schritt auf Rubinia zu. Was man diesem Tier zugutehalten musste war, dass eine Halblingsfrau kein Mensch war, und wenn sie dazu noch am Boden lag, eher einem schlafenden Schaf ähnelte.
Rubinia versuchte, den Irrtum aufzuklären, indem sie das Tier anbrüllte. Jedoch war ihre Stimme ähnlich bereit wie ihre Muskeln.
»Geh w-w-weg von mir, d-d-d-du Scheusal«, stammelte sie, »sonst werde ich dafür sorgen, dass du als Mütze endest.«
Der Reißer schien weder von Mützen noch von
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