Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
im Süden der Stadt. Ein Verstoß gegen die Grundregeln des Kastensystems wurde schwer geahndet. Ein Dieb konnte stehlen, ein Meuchler morden, doch wenn ein Bettler sich in ein Bett legte, musste er damit rechnen, gehängt zu werden.
»Sie kommen hoch«, zischte Dorn und nahm seine Position neben dem Türbruch ein. Mit gezogenem Kurzschwert wartete er auf die Eindringlinge.
Die morsche Holztreppe, die vom Erdgeschoss in den Nebenraum führte, ächzte unter den Schritten eines halben Dutzend Männer. Keiner von ihnen sprach oder schien es sonderlich eilig zu haben.
Senetha stellte sich schlafend, und Dorn hielt den Atem an.
»Dort ist eine junge Frau«, sagte jemand.
»Tut ihr nichts«, sagte eine andere Stimme. »Vielleicht hat sie sich genau wie wir nur hierhergeflüchtet.«
Im nächsten Augenblick trat ein junger Mann mit kurzen dunklen Haaren und einem Dreitagebart in den Raum.
Dorn sprang ihn von hinten an, setzte ihm die Spitze des Kurzschwertes an den Hals und riss ihn an der Schulter mit sich herum, um ihn zwischen sich und die Kollegen des Kerls zu bringen.
Dorns Gefangener hatte noch nicht einmal eine Waffe in der Hand, ebenso wenig wie die anderen Männer.
»Wir wollen Euch nichts tun!«, rief ein Mann aus der Gruppe.
»Lasst ihn los, wir wollen keinen Ärger«, ein anderer.
»Zu spät«, dröhnte Dorn. »Ihr habt euch den verkehrten Platz zum Spielen ausgesucht. Was habt ihr hier zu suchen?«
»Dasselbe könnte ich Euch fragen«, sagte der Einzige aus der Gruppe, der die dreißig schon überschritten zu haben schien. »Jedoch sollten wir unser Zusammentreffen nicht gleich mit Lügen beginnen. Deshalb würde ich vorschlagen, wir lassen die Frage unbeantwortet und wechseln das Thema.«
Er war ein hagerer Mann mit langen blonden Haaren, einer Hakennase und schmächtigen Schultern. Gekleidet war er in eine dunkelbraune Robe mit Kapuze und einfache braune Stiefel. Am auffälligsten jedoch waren seine beiden milchig grauen Augen, mit denen er Dorn anzustarren schien. Zwei seiner jüngeren Begleiter hatten ihn untergehakt.
»Du bist blind«, erkannte Dorn abfällig.
»Ah, das ist schon mal ein Anfang«, sagte der Mann. »Ich bin blind, und Ihr seid ein Söldner aus dem Süden dieses Kontinents. Seht Ihr, es geht auch ohne die ganzen Schmeicheleien und Notlügen. Da Ihr unschwer erkennen könnt, dass wir nicht bewaffnet sind, wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr meinen Freund Terek loslassen würdet.«
»Unbewaffnet?«, grollte Dorn, »Und was ist das?« Er zog seinem Gefangenen einen Dolch aus dem Hosenbund und präsentierte ihn.
»Ein Messer«, erklärte der Wortführer, nachdem einer seiner Begleiter ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. »Eines, wie Ihr es bei jedem zweiten Jungen finden würdet. Ihr wollt doch nicht behaupten, dass ein Mann wie Ihr sich vor einem Jüngling mit einem Dolch fürchtet.«
»Wenn er in meinem Rücken steckt, ist es egal, wem er mal gehört hat.«
»Er steckte aber in Tereks Hosenbund«, gab Dorns Gegenüber zu bedenken.
»Lass gut sein, Dorn«, sagte Senetha, die bis dahin äußerst zurückhaltend gewesen war. »Ich glaube, von ihnen geht keine Gefahr aus.«
Dorn schnaufte verächtlich und stieß den Jungen von sich, direkt in die Arme seiner Kameraden. Dann warf er ihm den Dolch zu, doch der Junge ließ ihn zu Boden fallen und musste sich nach ihm bücken.
Senetha machte einen Schritt auf die Gruppe von Männern zu. Dorn packte sie bei der Schulter, aber sie schüttelte ihn ab.
»Was seid ihr?«, fragte sie. »Eine Art Bürgerwehr? Ihr seht aus wie eine Gruppe Gelehrter. Warum seid ihr hier? Was wollt ihr in diesem Haus?«
Mit jeder weiteren Frage wurde das Lächeln des blinden Mannes breiter.
»Eure Stimme ist süßer als die Eures Begleiters. Euer Duft ist betörender, und Eure Worte sind wohl überlegt, doch die Neugier ist dieselbe. Warum sollte ich Euch mehr erzählen als ihm?«
»Wegen der von Euch genannten Unterschiede«, erwiderte Senetha.
Der Mann brach in schallendes Gelächter aus. »Ihr seid ganz nach meinem Geschmack. Etwas mehr Frauen wie Euch könnte diese Welt gebrauchen. Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Narik«, er deutete eine Verbeugung an und breitete die Arme aus. »Und die jungen Männer um mich herum sind Freunde, die mir gern ihr Ohr leihen und ab und zu auch ihre Augen, wie Ihr unschwer bemerkt habt.«
Senetha ging auf Narik zu und nahm seine Hand in die ihre. Dorn wusste, dass einer ihrer ersten Lehrer auf der Magierschule
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