Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
vielen Gebeine der Toten noch an Ort und Stelle lagen. Es war schon komisch: Obwohl sie von einem Troll in seine Höhle verschleppt worden waren, machte er sich trotzdem darüber Sorgen, ob die Toten auch tot blieben. Milo plagten ganz andere Gedanken.
Mittlerweile musste der Morgen bereits grauen. Es war kalt, und Milo hatte Hunger, aber er traute sich nicht, etwas vom Proviant aus der Tasche zu holen. Etwas zu essen schien angesichts dessen, dass man selbst befürchtete, als Appetithäppchen zu enden, irgendwie geschmacklos. Vorsichtig löste Milo seine Feldflasche vom Gürtel und nahm einen Schluck. Dann reichte er sie seinem Bruder.
»Du hast doch gesagt, du willst mit uns reden«, sagte Milo zaghaft zur Trollfrau; er hielt die Ungewissheit einfach nicht mehr aus. »Du hast es dir doch nicht anders überlegt, oder?«
Die Trollfrau knurrte nur kurz und kratzte sich an der Brust.
Milo wusste nicht viel über Trolle. Ehrlich gesagt, war er selbst darüber verwundert, dass sie sprechen konnten und verstanden, was man sagte. Er hatte all sein Wissen aus Büchern und Erzählungen. Dort hieß es, sie waren Einzelgänger, und dies war sicherlich auch der Grund dafür, warum sich nie einer in der Nähe des Dorfes hatte blicken lassen. Halblinge waren zwar keine gefürchteten Krieger, aber sie konnten äußerst unangenehm werden, wenn man durch ihre Vorgärten trampelte.
Weiter hieß es, dass sie starke und fähige Krieger waren, Elfen noch mehr hassten als alle anderen Völker und sich am liebsten von Dingen ernährten, die auf zwei Beinen liefen und der Sprache mächtig waren … was Halblinge einschloss. Anhand dieser dürftigen Informationen versuchte Milo, das Knurren der Trollfrau zu interpretieren, aber ob es nun ein zustimmendes Knurren oder mehr ein hungriges gewesen war, vermochte Milo nicht zu sagen.
»Vielleicht weiß sie nicht, dass wir Halblinge sind«, flüsterte Bonne, »und jetzt wartet sie darauf, dass wir groß werden, damit mehr an uns dran ist.«
Ach ja, Trolle besaßen laut den Geschichten auch ein außergewöhnliches Gehör und einen unglaublichen Geruchssinn.
»Ich weiß, was Halblinge sind«, schnaubte die Trollin. »Es sind schwächliche Zwergmenschen mit spitzen Elfenohren und Füßen von Kriegern.«
So hatte Milo es noch nie betrachtet, doch vielleicht hatte sie Recht, und Halblinge waren nicht mehr als eine Ansammlung von bezeichnenden Merkmalen anderer Völker. Blieb nur noch zu hoffen, dass sie nicht sonderlich schmeckten.
»Also, wenn du mit uns reden möchtest, ich wäre dann so weit«, erklärte Milo.
Bonne richtet sich blitzartig von seinem harten Steinlager auf. Hinter der verkrusteten Pampe in seinem Gesicht strahlten zwei große Augen.
»Ja, leg los!«, rief er. »Wir haben heute schließlich noch einen weiten Weg vor uns.«
»Wir warten noch auf den Schamanen«, grollte Uschma. »Er ist es, der euch die Fragen stellen wird.«
Bei dem Wort Schamane drehte sich Milo der Magen um. Er hatte schon von diesen heidnischen Priestern der Grünbluter gehört. Sie beteten einen Gott namens Hadar an. Die Rituale, die sie vollzogen, um mit ihm zu sprechen, oder um ihm ihre Ehrerbietung darzubringen, waren entsetzliche Massaker. Die Schamanen opferten Tiere, Gefangene, die sie gemacht hatten, odersogar ihresgleichen. Sie behaupteten, dass die Stimme ihres Gottes nur durch ein sterbendes Wesen zu ihnen sprechen würde. Man erzählte sich grauenvolle Geschichten von solchen Ritualen. Über Menschen, die tagelang gequält und gefoltert wurden, weil der Schamane noch keine Antworten auf seine Fragen bekommen hatte. Das göttliche Gespräch endete immer damit, dass das Medium starb.
»Denkst du das Gleiche wie ich?«, flüsterte Milo seinem Bruder zu.
Bonne nickte vorsichtig, wobei etwas von der Schlammkruste an Kinn und Hals abbröckelte. »Die Schwellung im Gesicht ist weg, und ich kann wieder sehen«, bemerkte er beiläufig.
Uschma beugte sich hinüber zu ihrem Lager – sie hatte ebenfalls auf dem Boden genächtigt, um den Eingang zu versperren – und durchwühlte die Felle nach etwas.
»Wie sieht es mit Laufen aus?«, erkundigte sich Milo flüsternd.
»Im Moment sind meine Beine noch etwas steif, aber ich glaube, wenn dieses Vieh hinter uns herhetzt, wird sich das schnell geben.«
»Lass den Rucksack einfach liegen. Ohne Gepäck sind wir schneller. Sobald sie das nächste Mal unaufmerksam ist, rennen wir los.«
»Wetten, dass ich vor dir aus der Höhle bin«, wisperte
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