Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
geraten können. Doch das jetzt wird uns bis zum Ende unseres Lebens verfolgen,wobei ich nicht davon ausgehe, dass dieses Ende noch allzu lange auf sich warten lässt.«
»Es war ein Unfall, mehr nicht«, murmelte Dorn.
»Ein Unfall?«, zischte Senetha. »Für mich sah es aus, als wenn zwei schwer bewaffnete Krieger aufeinander losgegangen wären und einer am Schluss in seiner eigene Lache Blut am Boden verreckte. Sag mir, wenn ich verkehrt liege.«
Dorn sackte an der Wand zusammen, wobei die Schnallen seiner Lederrüstung über die lehmverputzte Wand schabten und dabei tiefe Furchen hinterließen.
»Er stürmte mit gezogener Waffe auf dich zu. Du warst ihm hilflos ausgeliefert, weil du gerade einen Zauber wirken wolltest. Hätte ich zusehen sollen, wie er dich niederstreckt?«
»Weil ich einen Zauber wirken wollte, du hast es erfasst, und damit deine Frage selbst beantwortet«, sagte Senetha. »Was dachtest du denn, was ich vorhatte? Mir vielleicht Hasenohren wachsen lassen, damit mich die Regorianer nicht mehr erkennen? Wenn ich einen Zauber wirke, hat das seinen Grund. Ich hatte alles im Griff.«
Dorn wusste, dass es nicht so gewesen war, und an Senethas Stimme erkannte er, dass auch sie an sich selbst zweifelte. Aber wenn ihre anklagenden Worte dazu beitrugen, dass sie nicht wieder in Trübsinn verfiel so wie damals, als sie aus der Magierschule geworfen worden war, sollte es ihm recht sein. Sechs Wochen hatte er gebraucht, um sie wieder zum Sprechen zu bewegen. Sie hatte die ganze Zeit so gut wie nichts gegessen, und auch zu jedem Schluck Wasser hatte er sie überreden müssen. Noch einmal würde keiner von ihnen so etwas durchstehen.
»Es tut mir leid«, stöhnte Dorn. »Vielleicht ist es besser, wenn jeder von uns seiner Wege geht. Ich könnte mich stellen und alle Schuld auf mich nehmen. Vielleicht schlucken sie es und suchen nicht weiter nach dir.«
Senetha vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte leise.
Dorn kannte sie schon zu lange, um nicht zu wissen, dass sie wieder einmal an dem Punkt angekommen war, wo sie ihre eigene Zunge verfluchte. Senetha war sehr emotional, und nicht alles, was sie sagte, meinte sie auch so. Immer wenn ihre Beziehung eine Krise durchlitt, versuchte Dorn die Situation dadurch zu retten, dass er alle Schuld auf sich nahm. Aber auch damit beschritt er einen schmalen Pfad, da seine aufopfernde Haltung Senethas Selbstzweifel weiter wachsen ließen.
»Ich liebe dich doch«, schluchzte sie. »Ich kann nicht ohne dich leben. Du hast so viel für mich getan, wir haben so viel zusammen erlebt. Schon öfter dachten wir, unser Weg würde enden, doch zusammen haben wir bislang jede Situation gemeistert. Warum nicht auch diese?«
Dorn zog einen kleinen verschrumpelten Apfel aus der Tasche und hielt ihn hoch. »Hier, nimm den. Du musst etwas essen, und Äpfel sind gut für dein Gemüt.«
Er warf ihr die Frucht zu, und sie fing sie mit beiden Händen. Tränen rannen ihr über das Gesicht, als sie den überreifen Apfel betrachtete. »Er sieht genau so aus, wie ich mich innerlich fühle.«
Dorn grinste. »Das ist mir lieber, als wenn dein Äußeres so aussehen würde.«
Senetha steckte ihm die Zunge heraus, konnte sich aber ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen.
»Ruhig!«, zischte Dorn plötzlich.
Innerhalb eines Herzschlages wechselte seine Miene von belustigt zu besorgt. Er schob sich hinüber zum Fenstersims und wagte einen vorsichtigen Blick hinaus, dann tauchte er wieder ab.
»Wir bekommen Besuch.«
»Regorianer?«, fragte Senetha ängstlich.
»Nein, eine Gruppe junger Männer«, sagte Dorn. »Sieht aus, als wenn einer von ihnen verletzt ist.«
Im nächsten Augenblick hörten sie, wie jemand die verzogene Eingangstür mit einem Ruck aufstieß. Mehrere Personen betraten das Untergeschoss, dann wurde die Tür wieder geschlossen.
»Du spielst den Köder«, flüstere Dorn Senetha zu. »Mit etwas Glück sind es nur ein paar Bettler, die einen Platz für die Nacht suchen.«
So viel Vertrauen ins eigene Glück hatte schon etwas von Ignoranz. Kein Bettler würde in dieser Gegend ein leer stehendes Haus beziehen, schon gar nicht eines, das noch eine Tür besaß. Zu hoch war die Gefahr, von Stadtwachen erwischt zu werden. Die obersten Richter in Zargenfels verstanden keinen Spaß, wenn sich Bürger über die Gesetze ihrer sozialen Schicht hinwegsetzten. Bettler hatten unter freiem Himmel zu schlafen, arme Leute wohnten im Nordviertel, Händler im Osten und Wohlhabende
Weitere Kostenlose Bücher