Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
hatte, um ihn zum Bleiben zu überreden. Die nächtlichen Streitereien wurden von Tag zu Tag lauter und unbeherrschter. Auch alle anderen im Dorf nahmen Tugget ins Gebet – ohne Erfolg.
Jahre später kam sein Onkel zurück nach Eichenblattstadt. Seine Abenteuerlust hatte ihm keinen Wohlstand beschert. Alles, was er noch besaß, waren eine alte Schaufel, ein Schürfsieb und die Kleidung, die er am Leibe trug. Gedemütigt und desillusioniert, bat er seinen Bruder, ihn wieder aufzunehmen, bis er Arbeit gefunden hatte und sich ein eigenes Häuschen bauen konnte. Sein Bruder gewährte ihm zwei Monate. Milo hatte noch nie so eine Kälte gespürt, wie sie seinem Onkel in diesem Moment zuteil wurde. Niemand bot ihm irgendeine Beschäftigung an, keiner hörte ihm zu, und alle in der Gemeinde mieden ihn wie einen Aussätzigen. Genau zwei Monate später setzte Milos Vater seineneigenen Bruder vor die Tür. Wortlos gingen sie auseinander, und Onkel Tugget verließ Eichenblattstadt aufs Neue. Es hieß, er sei zurück in die Berge gegangen, um dort erneut sein Glück zu suchen oder den Tod zu finden.
Tante Rubinia hatte es ebenfalls nicht leicht gehabt, doch ihr hielt man zugute, dass sie eine wirkliche Anstellung gefunden hatte und nicht auf der Suche nach Abenteuern war. Rubinia war noch immer ein gern gesehener Gast in Eichenblattstadt, und ihre Meinung galt etwas.
Milo bezweifelte, dass man ihm und seinem Bruder zu Hause gerade ebenso viel Wohlwollen entgegenbrachte. Im besten Fall warf man ihnen vor, sich heimlich davongestohlen zu haben, und im schlimmsten Fall …
Milo verwarf seine trübsinnigen Gedanken. Was war bloß los mit ihm? Er fühlte sich wie eine Fliege, die auf einem Honigbrot festklebte. Ständig schweiften seine Gedanken ab. Es war, als hätte man einen Zauber auf ihn geworfen, der verhindern sollte, dass er diesen Ort verließ.
Er warf einen Blick auf das leere zweite Bett in seinem Zimmer und drehte nervös an dem fremdartigen Ring an seinem Finger. Fast konnte er Bonne dort liegen sehen, wie er friedlich und ruhig schlief. Im Gegensatz zu Milo. Das Trugbild von Bonne machte im Schlaf ein Gesicht, als ob es von Heidelbeermuffins träumte.
Vielleicht war das das Geheimnis der Halblinge. Egal wie schrecklich und ungerecht die Welt zu ihnen war, sie erfreuten sich auch weiterhin an den kleinen, alltäglichen Dingen des Lebens. Das Glück der Halblinge war dort zu finden, wo sie wohnten, häufig genug wuchs es einfach in ihren Vorgärten.
Milo spürte, wie die Ruhe dieser Vision auf ihn übersprang. Aber da gab es auch noch dieses andere Gefühl, das ihm sagte, dass sein Bruder sich auf ihn verließ. Milo war schließlich der Ältere, und wann immer die beiden etwas ausgefressen hatten, war es Bonne, der auf die Hilfe und den Ratschlag seines älteren Bruders angewiesen gewesen war und auf ihn gehört hatte.
Milo hatte gehofft, über all die Grübelei langsam müde zu werden, doch es gab noch etwas zu tun, bevor er sich in das gut duftende Bett legen konnte. Viel zu lange hatte er es vor sich hergeschoben oder in dem Trubel, den die Flucht, die Gefangennahme, der Fluch und die anschließende Reise mit dem Goblinjäger mit sich gebracht hatten, vergessen. Er griff in seinen Rucksack und zog das Bündel mit Unterlagen von Meister Gindawell hervor. Eingewickelt in schweres Schweinsleder, sah es fast aus wie ein Almanach. Die Aufzeichnungen des Meisters mussten schon viele Jahre alt sein. Die ersten Seiten waren vergilbt und an den Ecken, wo man sie umblätterte, ganz speckig.
Auf der ersten Seite standen nur ein paar wenige Worte, und selbst die gaben schon mehr preis, als Milo je über den alten Kleriker gewusst hatte.
Gindawell Sonnenklees, geboren im Jahr des Honigtaus, Meister des Glaubens seines Zeichens, Priester Cepheis und Gelehrter des Zeitalters der Verblendung.
»Gindawell Sonnenklees«, wiederholt Milo flüsternd.
Es war schwer für ihn zu glauben, dass man über zwei Dekaden mit jemandem im selben Dorf leben konnte, ohne seinen vollständigen Namen zu kennen. Jetzt, wo Meister Gindawell tot war, schämte er sich dafür, so wenig über den alten Mann gewusst zu haben. Er hoffte, dass Cephei ihn gebührender in ihr Reich aufgenommen hatte, und dass seine geleistete Arbeit im Reich der Toten mehr Anerkennung fand.
Den meisten Halblingen lag das Wissen um die Tätigkeiten und Forschungen eines Klerikers ebenso fern wie das Ernten von Tomaten im Winter. Die Glaubensbrüder hatten einen
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