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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
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begriff sie, dass sie noch in ihrem Haus war und nur geträumt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie sich im matten, schwefligen Licht der untergehenden Sonne auf den Sessel gesetzt hatte, müde und den Kopf voller Ängste, nach dem, was am Nachmittag geschehen war. Evelyn hatte vergeblich versucht, sie zu beruhigen, und ihr eine Tasse Tee gemacht. Und dann musste sie irgendwann eingeschlafen sein – die Teetasse lag noch auf ihrem Schoß.
    Der vergangene Tag hat mich wohl mehr mitgenommen, als ich mir das eingestehen wollte, dachte sie, als sie nur schwer aus dem Sessel hochkam. Moana war anscheinend robuster, sie konnte schreien und fluchen und markerschütternd lachen und fühlte sich dabei mit ihren zweiundneunzig Jahren offenbar so wohl wie ein Fisch im Wasser. Vielleicht motivierten Rache und Feindschaft besser, vielleicht machte innere Kälte die Menschen widerstandsfähiger gegen die Folgen des Alters, zumindest eine gewisse Zeit lang. Denn Moana war kalt, kalt bis ins Herz, anders konnte Ili sich diese irrsinnige Zerstörungswut gegen alles, was ihnen und ihren Eltern heilig gewesen war, nicht erklären.
    Sie ging hinaus in den Garten, wo schwache Lichtflecken das Blattwerk der Palmen sprenkelten. Der seidenfeine, laue Regen war wenig erfrischend, und die nächtliche Luft war auch zu dieser Stunde noch wie ein warmes Bad, in das unaufhörlich noch wärmeres Wasser nachtröpfelte. Ili streifte herum. Sie hätte ohnehin nicht schlafen können, dafür ging ihr zu viel durch den Kopf.
    Krisen hatte es in ihrem Leben immer gegeben und was für Krisen! Als die Behörden ihrer Mutter und ihr, da war sie noch ein Mädchen, die Hälfte des Landes abgenommen hatten, zum Beispiel, oder als im Pazifikraum der Zweite Weltkrieg ausbrach und Ili, verheiratet mit einem
Japaner, das Misstrauen ihrer Landsleute entgegenschlug. Als Senji auf so grausame Weise starb und sie zum ersten Mal in ihrem Leben ganz allein war. Als Moanas Sohn ihr das Leben fast zur Hölle machte. Als die Preise für Tropenfrüchte fielen und die Existenz der Plantage bedrohten. Nein, sie konnte die Krisen, die sie wegen des Landes und für das Land durchgestanden hatte, gar nicht zählen. Manchmal war sie wie ein Krieger gegen die Gefahren angegangen, manchmal hatte sie mit instinktiver Vorsicht und Passivität einfach alles ausgestanden, bis es vorüber war. Aber immer war es irgendwie weitergegangen wie ein Wasserrad, das sich unter dem Gewicht eines fließenden Baches dreht. Von ihrer Mutter hatte sie die Verantwortung und die Liebe für den Papaya-Palast geerbt, und sie war es Tuila und sich selbst schuldig, dass sie das Erbe bis zu ihrem eigenen Tod erhielt. Für das, was danach passierte, konnte sie nicht garantieren, kein Mensch konnte das. Doch nun drohte das Erbe noch vor ihrem Tod zerstört zu werden von Maschinen und elektrischen Sägen, und sie musste eingestehen, dass sie kein Mittel mehr wusste, dies zu verhindern.
    Hör auf damit, verbot sie sich. Du wirst einen Ausweg finden. Du hast immer einen Ausweg gefunden.
    Sie wandte sich um und ging hinunter zur Palauli Bay. Der schmale Pfad, der zum Strand führte, war zu beiden Seiten von Palmen flankiert, deren Blätter sich hoch oben zu einer tropischen Kathedrale der Natur vereinten. Langsam, als schreite sie zum Altar, ging sie den Weg entlang und betrachtete lächelnd die Schatten und Silhouetten der Nacht. Der Sand war warm und feucht, wie meistens im November, und Ili blieb an der Kante zum Wasser stehen und genoss das vertraute Gefühl unter ihren Füßen. Draußen auf dem Meer lag unendliche Dunkelheit, eingerahmt von den weißen Schaumkronen der Wellen und den phantomhaften
Felsen am Strand. Sonst war nichts zu sehen. Für manche Menschen war ein Meer bei Nacht unheimlich  – nicht für Ili. Bis zu den Knien stand sie im Wasser, schloss die Augen und atmete tief ein, als könne sie den Zauber von zehntausend Nächten einatmen.
    Als sie nach einer Weile auf den Strand zurückkehren wollte, sah sie im Schatten der Felsen die Konturen eines Menschen.
    »Wie lange sitzen Sie dort schon?«, fragte sie.
    »Ein paar Stunden«, antwortete Evelyn. Sie deutete auf ihre aufgekrempelten Hosen. »Ich stand auch schon im Wasser und habe mir die Finsternis angesehen, auf Geräusche geachtet …«
    Es entstand eine kleine Pause, in der sich die Frauen einfach nur ansahen.
    Ili musste zugeben, Evelyn bisher zu wenig beachtet zu haben. Natürlich, sie hatte der jüngeren Frau viel aus der

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