Der Duft der grünen Papaya
Vergangenheit erzählt, und sie schätzte es, dass ihr jemand zuhörte, noch dazu eine Deutsche, aber wirklich beschäftigt hatte sie sich mit ihrer Zuhörerin nicht. Was in den letzten Tagen an Schwierigkeiten, ja, Katastrophen, auf Ili eingestürzt war, hatte sie vollständig in Anspruch genommen. Es war, als sauge der Papaya-Palast ihre gesamte Konzentration auf.
Wie sie aber nun Evelyn im Sand vor den mächtigen Felsen sitzen sah, erinnerte sie sich an die vielen Male, als sie selbst noch eine junge Frau war und am gleichen Platz saß, die Nacht genoss oder Probleme wälzte. Senji war immer an ihrer Seite gewesen, mit ihm konnte sie alles besprechen oder einfach nur schweigen. Und sie erinnerte sich an die Einsamkeit, als er nicht mehr bei ihr war, an das Gefühl, als hätte man ihr einen Teil ihrer selbst entrissen. Etwas sagte Ili, dass diese junge Frau sich jetzt ebenso fühlte.
»Wie wäre es«, fragte Ili, »wenn ich mich zu Ihnen setze? Wenn wir schon beide gerne die Finsternis betrachten, können wir es ebenso gut zusammen tun.«
»Ich fürchte, ich bin heute Abend kein guter Gesellschafter«, seufzte Evelyn. »Besser, wenn ich allein bleibe.«
Ili überlegte einen Moment, dann verwarf sie kurzerhand den Einwand. »Sie waren lange genug allein. Kommen Sie, rücken Sie ein Stück.«
Auf Evelyns Platz lagen eine Matte und ein Tuch. Von hier aus konnte man bei Helligkeit die ganze Bucht nach Westen hin überblicken, und man saß geschützt gegen den Wind und, durch einen wilden Tuberosenstrauch, auch ein wenig gegen den Sprühregen. Die Steine hinter ihnen dienten als Lehne und gaben außerdem die gespeicherte Wärme des Tages an sie ab.
Ili blickte die jüngere Frau aus den Augenwinkeln an, die noch immer das Kinn auf die angewinkelten Beine stützte und melancholisch die kurzlebigen Lichtpunkte auf dem Meer betrachtete.
Nachdem sie eine Weile still auf ein Wort Evelyns gewartet hatte, fragte sie: »Warum sind Sie nach Samoa gekommen, Evelyn? Ich meine, Sie sind doch keine Touristin der üblichen Art, gehen nicht schwimmen, fahren wenig durch die Gegend und wandern nicht. Sie denken sehr viel nach, und ich würde Sie gerne fragen, worüber. Bitte, nicht dass Sie glauben, ich dränge mich auf, nur machen wir gemeinsam so viel durch, dass ich dachte …«
»Ich wollte mir das Leben nehmen«, sagte Evelyn mit fast unbeteiligter Stimme.
Es entstand eine Pause, in der Ili tief durchatmete. »Wann?«
»Vor einigen Tagen. Aber eigentlich wollte ich schon vor vier Jahren sterben, kurz nach dem Tod meiner wenige Stunden alten Tochter.«
»Aber Sie konnten es nicht tun, nicht wahr? Im letzten Moment sind Sie davor zurückgeschreckt.«
»Nein, ein Anruf hat mich gerettet, in buchstäblich letzter Sekunde.«
»Erzählen Sie mir davon. Bitte, Evelyn.«
Evelyn konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie an jenem Abend vor vier Tagen ans Telefon gegangen war. Sie hatte mit zitternden Händen vor dem Waschbecken im Bad gestanden, das kalte Metall des Messers an die warme, fiebrige Haut über der Pulsader gepresst, und hörte es zwei-, dreimal klingeln. Anfangs wollte sie nur, dass es aufhörte, denn es irritierte sie. Es war wie ein Weckruf, der einen aus dem morgendlichen Halbschlaf reißt. Jedes Klingeln holte sie ein Stück mehr ins Bewusstsein zurück und senkte das Nervenfieber, das sie überfallen und gepackt und dazu gebracht hatte, das Messer zu ergreifen. Noch immer war alles düster und unerträglich, doch an die Stelle der hitzigen Gefühle, die wie eine Eruption über sie hereingebrochen waren, war wieder die übliche kalte Hoffnungslosigkeit getreten, die sie seit Jahren umfing. Sie wusste nicht, was sie letztendlich zum Telefon trieb – war es die Aussicht, dass Carsten doch nicht nach Afrika geflogen war, war es der Wunsch, mit jemandem zu sprechen –, was auch immer, es rettete sie.
Bianca meldete sich. »Du, ich wollte gerade auflegen. Das hat ja ewig gedauert. Störe ich? Eigentlich wollte ich ganz kurz die Termine für nächsten Monat mit dir durchgehen. Passt dir das jetzt?«
»Ich kann nicht mehr«, murmelte Evelyn in die Sprechmuschel, und es war Biancas Verdienst, dass sie auf der Stelle begriff, was damit gemeint war. Irgendetwas in Evelyns Stimme ließ keinen Zweifel daran.
»Heute ist Julias Todestag, nicht?«, fragte Bianca, obwohl
sie es wusste. Sie hatte nur deswegen angerufen, um sie zu trösten, ihr eine Freundin zu sein.
»Jeder Tag«, antwortete Evelyn leise,
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