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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
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deinem Zustand abzuhauen, das ist doch Selbstmord.«
    »Wenn ich bleibe, das ist Selbstmord. Der letzte Abend ist der beste Beweis. Ein blöder Anruf aus Lubumbashi hätte mich beinahe das Leben gekostet. Was wird es beim nächsten Mal sein, Bianca? Ein falsches Wort meiner Schwiegermutter? Schlimme Erinnerungen nach zwei Flaschen Wein?«
    »Du brauchst dringend Hilfe. Ich wundere mich, dass du nicht schon längst in eine Therapie gegangen bist, du, eine Unternehmensberaterin, die weiß, wie wichtig in schwierigen Situationen professionelle Hilfe ist. Vorwürfe mache ich deswegen allerdings nur Carsten – und mir selbst. Ich dachte nicht, dass … dass es so schlimm um dich steht.«
    Evelyn schnäuzte sich ins Taschentuch. »Eine normale Therapie hilft mir nicht mehr. Ich habe so ein Gefühl, Bianca, ich kann es nicht erklären, ein Gefühl, als ob mein Leben ab jetzt grundlegend anders verlaufen müsste.«
    »Anders als seit Julias Tod, da stimme ich dir zu.«
    »Nein, auch anders als vor Julias Tod. So als müsste ich mein ganzes bisheriges Leben radikal hinter mir lassen.«
    »Hinter dir lassen! So einfach geht das doch nicht! Wohin, zum Kuckuck, willst du denn gehen?«

    »So weit weg wie möglich. Auf den Mond, wenn’s geht. Und wenn nicht, ans andere Ende der Welt.«
    Es blieb dabei. Bianca konnte sie nicht umstimmen und fuhr sie nach einem letzten Cocktail nach Hause. Sie bestand nicht darauf, dass Evelyn bei ihr übernachtete, und zum Abschied verlor sie auch nicht viele Worte. Vielleicht dachte ihre Freundin, dass Evelyn zu betrunken sei, um die Ankündigung wahr zu machen und sich am nächsten Morgen nach dem ausgeschlafenen Rausch noch daran zu erinnern. Doch Evelyn legte sich erst gar nicht schlafen. Noch in der Nacht packte sie hastig und mit tränenverschmierten Augen einen Koffer und suchte sich im Internet einen Flug nach Australien. Ein paarmal versuchte sie, Carsten eine Nachricht zu schreiben, aber alles, was ihr einfiel, klang wirr und dumm, und so beließ sie es bei einem simplen: »Bin gegangen. Ist besser für uns beide.« Sie hatte keine Kraft, darüber nachzudenken, wie er sich dabei fühlen würde. Nur so viel wusste sie: Er hatte die Macht, sie in ihr altes Leben zurückzuholen. Ein trauriger Blick von ihm, ein paar Tränen, die Geborgenheit seiner Arme, die Wärme seiner Stimme, und schon wäre es um sie geschehen. Unter den dicken Schichten aus Schmerz und Gleichgültigkeit spürte sie, dass sie noch etwas für Carsten empfand, dass er der Einzige war, der ihren Entschluss gefährden konnte. Sie durfte nicht mit ihm sprechen. Es könnte ihr Leben kosten.
    Sie verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen, und fuhr mit einem Taxi zum Friedhof.
    Eine unendlich tiefe Stille lag über den Gräbern. Der Novembersturm hatte Zweige und einen Teppich dichten braunen Laubes über die Steine und Wege ausgeschüttet. Julias kleiner runder Grabstein war fast vollständig verdeckt. Evelyn ließ alles so, wie es war. Sie mochte nicht, wie manche Mütter die letzten Ruhestätten ihrer Kinder verzierten: kleine Fleckchen Erde, überladen mit bunten
Fähnchen, Püppchen und Plastikblumen, wie sie alles putzten und schmückten, bis es aussah wie in einem Vergnügungspark, wie sie Osterhasen an Ostern und den Nikolaus in der Adventszeit aufstellten. Vielleicht lag es daran, dass diese anderen Mütter Weihnachts- und Osterfeste mit ihren Kindern verbringen durften, ein, fünf oder zehn Jahre lang. Evelyn hatte nicht ein einziges Fest mit Julia feiern können, keinen Geburtstag, nicht einmal einen einzigen Abend. Julias Grab bedeckten nur filigrane Gräser, die bei jedem Windstoß schaukelten und zu dieser Jahreszeit grüne Höcker bildeten, die sich von dem Kiesel abhoben wie Trauminseln aus einem gleißenden Meer.
    Ich möchte irgendwohin, wo es so aussieht, dachte Evelyn und strich mit der Hand über die Graspolster und das Laub. Auf eine grüne Insel. Mit einem Berg. Mit Wärme und Wind. Mit einem gleißenden Meer.
    »Ich kann nicht anders, Schatz«, sagte sie, und die Erinnerung blitzte auf an das kleine rotgesichtige, verletzliche Wesen, das sie eine Stunde lang in den Armen halten durfte, aus ihrem Körper genährt und die Wärme gespürt hatte, die von ihm ausging. Hätte Julia weitergelebt, ginge sie heute, jetzt in diesem Augenblick, in den Kindergarten, wo sie Freundschaften schließen, Früchtetee trinken und mit den Trauben, die sie nicht essen wollte, nach anderen Kindern werfen

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