Der Duft der grünen Papaya
würde. Sie käme nachmittags nach Hause, würde Fragen stellen, die Evelyn in Verlegenheit brächten, würde Puzzle zusammensetzen oder einen Schmetterling aus Papier basteln und mit jeder einzelnen Bewegung verzaubern. Nichts auf der Welt hätte Evelyn dazu bringen können, die vierjährige Julia zu verlassen.
Doch diese Julia gab es nicht, hatte es nie gegeben. Julia musste gehen.
Und Evelyn musste nun auch gehen.
Mit den Ärmeln hatte sie sich die Tränen von den Wangen
gewischt und das Grab verlassen, schneller als es nötig gewesen wäre.
Es war das Schwerste gewesen, das sie je hatte tun müssen.
Ili hatte zwischenzeitlich den Arm um Evelyns Schultern gelegt, weil diese angefangen hatte zu zittern.
»Und Ihr Mann?«, fragte sie. »Er weiß nicht, dass Sie hier sind?«
Evelyn verneinte stumm. »Ich glaube, ich wollte mir beweisen, dass es tatsächlich aus ist zwischen uns, wollte endgültige Fakten schaffen, und deswegen habe ich gestern … Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie ich hinter Ray Kettners wahre Absichten gekommen bin. Er hat es mir nicht freiwillig erzählt, wissen Sie. Ich war auf seinem Zimmer. Er und ich, wir … Mein Gott, war ich dumm.«
Ili nahm Evelyns Hand. »Da Sie das jetzt wissen, haben Sie bereits etwas daraus gemacht, so müssen Sie die Sache sehen. Der Selbstmordversuch, Ihre Flucht von zu Hause, Ihr schlechtes Gewissen, weil Sie meinen, Ihre Tochter verlassen zu haben, die Ungewissheit, was als Nächstes kommt: Das alles hat Ihr Leben durcheinander geschüttelt, und nun versuchen Sie, es neu zu ordnen. Dass Sie dabei Fehler machen, ist normal und sogar wünschenswert. Sie werden dadurch verstehen, was aus Ihrem alten Leben noch in Ihr neues gehört – und was auf den Schrottplatz sollte.«
Ilis Stimme wurde noch sanfter, als sie fragte: »Was mich interessiert, Evelyn: Ihre Tochter … Julia … Schreiben Sie ihr?«
Evelyn hob den Kopf. »Wie bitte? Julia ist tot.«
»Ich weiß«, sagte Ili.
»Wenn Sie das wissen, wieso stellen Sie dann diese seltsame Frage?«
»Ich meine es völlig ernst. Schreiben Sie ihr?«
Evelyn schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Das wäre doch absurd. Wohin sollte ich die Briefe wohl schicken? In den Himmel?«
Ili ignorierte den gereizten Ton Evelyns. »Nirgendwohin. Die Briefe sind für Sie – und für Julia. Schreiben Sie ihr, was Sie tun, wohin Sie gehen, was Sie erleben und wie Sie sich dabei fühlen. Schreiben Sie ihr von den Farben im Frühling, von den Sommergewittern, vom nassen Laub und vom Schnee. Von den Kindern in der Nachbarschaft, von den Sandkästen im Kindergarten, von der Einsamkeit und dem Zorn und der Hilflosigkeit, von Ihrem Mann, von den Erinnerungen, den guten wie den schlechten. Schreiben Sie ihr all das.«
Während Evelyn noch verwirrt über diesen Vorschlag staunte, ergänzte Ili: »Wie war sie? Wie war Julia? Erzählen Sie mir von ihr.«
Evelyn suchte nach Worten. »Sie war … na ja, sie war sehr klein. Ein Winzling, 4220 Gramm, etwa so groß.« Evelyn beschrieb die Größe mit ihren Händen, senkte sie dann langsam wieder, ohne den Blick von ihnen zu nehmen. Nach einem Moment lachte sie plötzlich leise auf. »Aber temperamentvoll war sie, das können Sie sich nicht vorstellen. Sie hat so sehr mit den Armen gefuchtelt, dass sie meiner Schwiegermutter einen Kinnhaken versetzte. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie schon nach einer Stunde auf dieser Welt eine hervorragende Menschenkenntnis besitzt.«
»Das Temperament hat sie von Ihnen, oder?«
Evelyn lächelte. »Eher nicht. Auch nicht von Carsten oder einem der Großeltern. Sie war … Sie war etwas ganz Eigenes, Besonderes. Ich glaube, sie hätte uns alle zum Staunen gebracht, wenn sie … Aber sie war ja noch so klein, hatte ja keine Zeit.« Evelyn stockte. »Die Dinge, von denen Sie sprachen, Farben, Schnee, Gefühle, würde sie nicht verstehen.«
»Sie wäre jetzt vier, nicht wahr?«
Evelyn nickte.
»Ein vierjähriges Kind«, sagte Ili, »sieht die Welt und spürt die Gefühle, die ihm entgegengebracht werden. Selbst die Kleinsten und Jüngsten haben diese Fähigkeit. Nehmen Sie Julia im Geist mit auf Spaziergänge, beschreiben Sie ihr, was für ein schöner Tag es ist, wie die Hunde in der Ferne bellen, wie der Nebel sich langsam lichtet. Sagen Sie Ihrem Kind, was Sie empfinden, damit es mit Ihnen empfinden kann. Zweifeln Sie nicht daran, Evelyn. Lassen Sie Julia nicht allein – lassen Sie sich nicht allein.«
Eine Zeit
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