Der Duft der grünen Papaya
lang sagte keiner mehr etwas, nur die Stimme des Wassers, leise verebbende Wellen, unterbrach die Stille. Dann, als das Kreuz des Südens im Zenit stand, sagte Ili so leise, wie man nachts an einem verlassenen Strand spricht: »Sie sind nach Samoa gekommen, um irgendetwas anders zu machen, zu verändern. Und nun haben Sie sich verändert, Evelyn. Ist Ihnen das eigentlich bewusst?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Evelyn schulterzuckend. »Die Konstanten in meinem Leben sind noch genau die gleichen wie vor einigen Tagen.«
»Von Konstanten spreche ich nicht. Als Sie im Papaya-Palast ankamen, waren Sie eine ziemlich konfuse Frau, die nach irgendeiner Hilfe suchte, welcher auch immer. Und jetzt sind Sie es, die hilft.«
»Eine schöne Hilfe«, sagte Evelyn sarkastisch. »Wir sind genauso weit wie vorher.«
Ili fasste die jüngere Frau am Arm. »Genau das meine ich. Sie sagten eben, ›Wir sind genauso weit wie vorher‹. Wir! Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie – so merkwürdig das klingt – der einzige Mensch sind, der mit mir den Verlust des Landes und des Papaya-Palastes betrauert? Wo sind sie denn alle, diejenigen, die eigentlich an meiner Seite stehen sollten? Ane, meine Verwandte und Erbin, kann es gar
nicht abwarten, das Land zu verschachern, und Ben, mein ältester Freund, hat resigniert und ist über das alles nicht betroffener als über eine nahende Schlechtwetterfront. Und da kommen nun Sie daher, eine mir unbekannte Frau, zum ersten Mal auf Samoa, mit Weinflaschen im Koffer und Trostlosigkeit im Herzen, und stehen an meiner Seite. Das ist alles andere als selbstverständlich.«
Evelyn lächelte verlegen. »Sie haben Recht, das klingt wirklich merkwürdig. Eine völlig Fremde wie ich.«
Ili unterbrach sie. »Nein, eben nicht. Denn sehen Sie, Evelyn, ich habe Sie zwar eben eine mir unbekannte Frau genannt, aber Sie sind keine Fremde. Wir Samoaner glaubten früher, dass die Seele eines Toten im Wind manchmal der Seele eines noch Ungeborenen begegnet und sich vereint. Vielleicht hat sich die Seele einer Samoanerin mit der Ihren vor langer Zeit vereint. Denn wie sonst kann es sein, dass Sie die Bäume, die Berge und das Meer ansehen, als seien sie Ihr Zuhause? Wie sonst könnten Sie für etwas eintreten, das Sie kaum kennen?«
Evelyn ließ eine Hand voll Sand durch die Finger rieseln. »Eine schöne Vorstellung«, sagte sie. »Dass meine Seele noch eine Seite hat, die ich nicht kenne.«
Ili nickte. »Die meisten Menschen haben eine andere Seite, aber viele lernen sie niemals kennen. Weil sie zu beschäftigt sind oder weil sie ihnen nicht in den Kram passt.«
»Oder weil sie sich vor ihr fürchten«, ergänzte Evelyn und blickte Ili gespannt an.
Ili hatte das Gefühl, dass Evelyn mit dieser Bemerkung auf etwas Bestimmtes hinauswollte.
Kein Wunder, dachte sie, Moana wird ihr vorhin von Atonio erzählt haben.
So gern sie die jüngere Frau hatte: Diese Sache war die einzige, über die sie nicht bereit war zu sprechen.
»Auch das ist möglich«, antwortete sie ausweichend.
»Nehmen Sie als Beispiel meine Familie, die Valaisis. Glauben Sie nicht auch, dass Tupu noch eine andere, eine hellere Seite hatte und dass es nur ungünstige Umstände waren, die ihn zum Verbrecher werden ließen? Dass er im Grunde nicht tun wollte , was er tat? Ich glaube, er fürchtete sich vor sich selbst. Und irgendwann kam der Zeitpunkt, da hasste er sich sogar. Er …«
Ili unterbrach sich plötzlich.
»Warum erzählen Sie nicht weiter?«, fragte Evelyn.
Ili blickte sie eindringlich an. »Ach, Evelyn, wir haben so viele Probleme, stehen beide an einem Scheideweg unseres Lebens – wie könnte uns dabei eine alte Geschichte helfen?«
Evelyn rückte einige Zentimeter näher an Ili heran. »Sie könnte aber auch nicht schaden, oder?«
Ili und Evelyn lächelten.
»Sie geben nicht auf, oder?«, fragte Ili vieldeutig.
Evelyn schüttelte sanft den Kopf. »Nur, wenn Sie nicht aufgeben. Also, Sie sagten, Tupu hasste sich für seine Taten.«
»Noch nicht, als er in den Papaya-Palast einzog, aber später.«
»Die drei Morde.«
»Die drei Morde«, bestätigte Ili. »Glauben Sie mir, Evelyn, es kann ein Schock sein, wenn man begreift, zu was man fähig ist. Ein furchtbarer Schock.«
Samoa, Juli 1914
Mittlerweile fürchtete er die Nacht nicht mehr.
Tupu hatte festgestellt, dass ihn die Geister, die einen im Mondlicht sehen und aufspüren konnten, unbehelligt ließen. Dreimal war er in den letzten Wochen durch den
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