Der Duft der grünen Papaya
sah das Päckchen mit einer Ehrfurcht an, als hielte er die Büchse der Pandora in den Händen. »Du hast … ihr Briefe … geschrieben?«
Leise bat sie ihn: »Ich möchte, dass du sie liest. Bitte,
Carsten. In der Zwischenzeit gehe ich das letzte Stück auf den Mafane. Komm nach, wenn du fertig bist.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab und stieg schnell den Pfad zum Gipfelplateau hinauf. Noch immer wehte kein Lüftchen. Die Landschaft stand wie ein gigantisches Gemälde vor ihr, nach Norden und Westen der sattgrüne Teppich der Berge und Wälder, nach Osten und Süden das blaue Meer, gesprenkelt von den kleinen hellen Punkten der Yachten und Boote, die hier kreuzten. Natürlich wusste sie, auf welchem Fleck sie stand. Ili hatte ihr von Tuilas und Tristans Platz auf dem Mafane erzählt und von der überwältigenden Kulisse, die sich hier bot. Für das, was Evelyn vorhatte, war der Mafane ideal.
Doch so weit dachte sie jetzt noch nicht. Carsten las in diesem Moment die Briefe, und Evelyn war in Gedanken bei ihm und ihrer Tochter. Bruchstücke dessen, was sie in den letzten Tagen geschrieben hatte, zogen an ihr vorbei:
Julia, ich bin gerade aufgestanden, der Tag ist noch jung und mein Kopf noch frei. Ich glaube, diese Zeit ist unsere Zeit. Mit dir zusammen gehe ich in den Tag, nehme dich mit … Vorhin ging ich durch die Plantage spazieren, und ich musste daran denken, welchen Spaß du mit diesen lustig aussehenden Papayabäumen gehabt hättest. Vergib mir, aber da musste ich weinen … Diese Welt ist so anders, Julia, dass man kaum glauben kann, dass es sie überhaupt gibt. Eine Zauberwelt, aber genau deswegen erreicht sie mich: Ich laufe durch den lauen Regen und spüre ihn auf meiner Haut; ich sehe die Feuer der Dämmerstunde und rieche den Duft der gekochten Brotfrucht; ich beobachte junge Frauen, die Blumen für die Abendtoilette sammeln, und lächele ihnen zu. Sonnenstrahlen erreichen wieder mein Herz, Julia, und ich weiß, dass du dich darüber freuen würdest. Du hast mich nie einsam sehen wollen, traurig und ziellos. Indem du gekommen und gegangen bist, hat
sich mein Leben verändert, aber wenn aller Genuss und Lebenshunger für immer mit dir verschwände, wäre es so, als würdest du zweimal sterben. Du liebst mich, Julia, ich weiß das. Ich spüre es. Für uns beide werde ich wieder leben … Ili hat mir von den Seelen der Verstorbenen und Ungeborenen erzählt, von Seelen, die sich treffen und verbinden. Da habe ich an dich denken müssen, an deine Seele, und mir kam der Gedanke, dass deine Lebenskraft, die für siebzig oder achtzig Jahre ausgereicht hätte, unverbraucht geblieben und damit frei geworden ist, frei für andere, noch Ungeborene. Eine Menge Leute würden mich verrückt nennen, an so etwas zu glauben, mir gibt es ein gutes Gefühl, und nur das zählt … Ich habe heute gesehen, wie es ist, wenn eine Seele versteinert, starr und verbittert ist, oder wenn sich allenfalls eine harte Narbe über der Wunde bildet. Mir ist klar geworden, welche Chance darin liegt, sich auszusöhnen, nicht nur mit Menschen, sondern auch mit dem, was wir Schicksal nennen … Das Schicksal ist neutral, Julia, das habe ich jetzt verstanden. Es schließt Türen zum Glück und öffnet dafür andere, doch wir Menschen starren immerzu nur auf die verschlossene Tür, so dass wir die offenen überhaupt nicht wahrnehmen … Ich lerne gerade, die Erinnerungen zu beherrschen, anstatt sie über mich herrschen zu lassen. Der Gedanke an dich soll etwas Schönes sein, etwas Zauberhaftes, Berührendes, und nicht eine Faust, die mir ins Gesicht schlägt. Mein Schmerz um dich ist mächtig, aber meine Liebe zu dir ist mächtiger … Dein Vater ist da, und ich weiß nicht, wo ich mit ihm anfangen soll. Wenn er nur mit mir reden würde, ich meine, richtig reden, wenn er nicht immerzu diesen Eisenpanzer tragen würde! In all den Jahren seit du fort bist, habe ich viele, sehr viele Fehler gemacht, Julia, aber der Schlimmste war, dass ich immer glaubte, allein mit dir zu sein, schrecklich allein. Dass du, wo immer du bist, nicht
nur eine Mutter hast, die an dich denkt, sondern auch einen Vater, daran habe ich nie gedacht. Jetzt fühle ich, dass du Carsten so liebst wie du auch mich liebst, und an dieses Band möchte ich anknüpfen. Du hättest, wenn du nicht gestorben wärst, uns beide an deiner Seite gewollt, Mutter und Vater, nicht bloß mich, und so willst du gewiss auch jetzt uns beide, Carsten und mich, haben, die für dich
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