Der Duft der grünen Papaya
diese Schmach mit Tupus Gesicht verknüpfen. So weit war Tuila ganz auf der Seite ihres Bruders. Sie würde ihn in dieser Sache stets den anderen gegenüber verteidigen. Doch dass er jetzt Tristan dafür verantwortlich machte – und es noch nicht einmal Auge in Auge tat, sondern nur ihr sagte – nahm sie ihm übel.
»Malie lou loto« , entschuldigte sie sich. »So habe ich es nicht gemeint. Ich finde nur, du solltest ihm selbst sagen, was du auszusetzen hast.«
Er fletschte die Zähne. »Eines lass dir sagen: Dein Tristan ist nur auf den ersten Blick netter als die anderen Deutschen. Er ist ein Besatzer, er hält uns gefangen. Er kommandiert Leute mit Gewehren.«
»Unsere eigenen Leute«, erwiderte sie. »Die Polizei, die Fita-Fita , besteht nur aus Samoanern.«
»Verräter, allesamt. Wir werden unterdrückt und sehen tatenlos dabei zu.«
»Was ist denn plötzlich los? Du hörst dich schon an wie die Mau «, erwiderte Tuila. Die Mau waren eine sehr kleine Gruppe von Widerständlern, die ab und an Sabotageakte verübte oder das, was sie darunter verstand. Sie drangen in deutsche Ställe ein und ließen die Pferde laufen, verwüsteten die Ränder einiger Plantagen, klauten Lieferungen und Ähnliches. Einmal hatten sie das Gouverneursautomobil demoliert. Dass die Deutschen diese – wie sie es nannten – Dummebubenstreiche nicht sonderlich ernst nahmen, war daran zu sehen, dass sie bisher nie ernsthaft gegen die Mau vorgegangen waren. Doch so harmlos sich die Taten der Rebellen ausnahmen, so energisch war ihre Wortwahl, wenn es um die Weißen ging.
Tuila hielt dagegen und zählte an den Fingern auf: »Die Deutschen haben für uns ein sauberes Krankenhaus gebaut. Sie verhindern durch Quarantäne, dass westliche Krankheiten auf uns übergreifen – was nicht selbstverständlich ist, wie wir von jenen polynesischen Inseln wissen, wo Briten und Franzosen herrschen. Weiter: Sie kaufen unsere Ernten zu anständigen Preisen, sie behandeln unseren König gut, sie respektieren unsere Sitten und Bräuche …«
»O ja, das habe ich heute gesehen.«
Tuila seufzte. Sie versuchte, die Schärfe aus dem Gespräch zu nehmen, denn ihr lagen Streitereien nicht; sie konnte danach nächtelang nicht schlafen.
»Zugegeben«, sagte sie, »dieser Oberst ist eine Ausnahme. Tristan mag ihn auch nicht, das hat er mir erst vor ein paar Tagen gesagt. Doch er kann nichts gegen ihn tun. Bei den Weißen nehmen Vorgesetzte etwa denselben Platz ein wie bei uns Familienoberhäupter. Sich gegen ihn aufzulehnen hieße, die ganze Ordnung seiner Heimat in Frage zu stellen.«
»Und genau deswegen wird Tristan sich eines Tages gegen uns wenden, wie dieser Oberst. Tristan wird alles tun, was die Weißen ihm befehlen, denn er ist ein Weißer, und keine noch so große Illusion von dir kann daran etwas ändern. Wenn sie ihm sagen: schieß, dann schießt er. Wenn sie ihm sagen: heirate eine Deutsche und verstoße deine Geliebte, dann wird er es tun. Er wird dich verlassen.«
Tuila ohrfeigte ihren Bruder derart heftig, dass Vögel von Ästen aufflogen.
Tupu berührte seine Wange und brauchte einige Momente, um zu begreifen, was geschehen war. Sie hatte ihn zum ersten Mal geschlagen. Viel schlimmer konnte der Tag nicht mehr werden, für keinen von ihnen.
»Es wird Zeit«, flüsterte er, »etwas gegen sie zu unternehmen, die papalagi .«
Er wandte sich abrupt ab und verließ mit schnellen Schritten den Weg. Das Dickicht hatte ihn bereits verschlungen, als Tuila hinter ihm herrief: »Tupu, wohin willst du? Komm zurück, bitte. Versprich mir, dass du Tristan nichts antun wirst. Tupu!«
Sie erhielt keine Antwort, der Wald blieb stumm. Alle Stimmen, die sie hörte, kamen aus ihrem Innern und redeten durcheinander. Wie bei den Vogelstimmen war auch bei diesen Stimmen eine einzelne nur mit Mühe von den anderen zu trennen.
Tuila bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Der Streit mit Tupu verwirrte sie, und sie begann zu zweifeln, woran sie bisher nie gezweifelt hatte. War nicht auch Wahres in Tupus Worten? Kannte sie Tristan denn so gut, dass sie sich seiner sicher sein konnte? Er sagte, dass er sie liebe, und er bewies es ihr in vielen zärtlichen Momenten: wenn sie sich gegenseitig mit Kokosöl einrieben, wenn sie bei Neumond gemeinsam in der Bucht schwammen mit nichts anderem über ihnen als dem Sternenkreuz des Südens, wenn sein blasser, von feinen blonden Haaren bedeckter Körper sich in einer schwarzen stillen Obstpflanzung ganz langsam
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