Der Duft der grünen Papaya
hatten. Sie waren die einzigen Kinder ihrer Eltern, nur ein Jahr trennte sie voneinander, und Tuila, die Ältere, hatte ihren Bruder schon früh ins Herz geschlossen. Sie hatte bei ihm gewacht, wenn die Eltern Besorgungen machten, hatte ihm bei Feuerschein die ersten Lieder beigebracht, später das Schwimmen in der Lagune, das Fischen, die Zubereitung von Speisen, fast alles, was woanders die Väter und Mütter lehrten. Er revanchierte sich, indem er sie auf Erkundungen ins teilweise unwegsame Inselinnere mitnahm und ihr die schönsten Stellen zeigte, wo man eine besondere Sicht hatte oder einen ganzen Tag lang nur für sich sein konnte. Natürlich war inzwischen die Kinderzeit vorbei, und sie unternahmen viele Dinge auch ohne den anderen, aber trotzdem kam Tristan sich manchmal wie ein Eindringling vor, wenn er sie zusammen sah. Er hatte Tuila das erst kürzlich gestanden, woraufhin sie ihn wieder mit jenem Blick bedacht hatte, der ausdrückte, wie unnötig schwer er sich alles mache.
Er trat hinter dem Geländer hervor, das ihn bisher verborgen hatte, und ging auf die beiden zu. Tupus Wunde am Oberarm sah schon viel besser aus. Das Blut war bereits geronnen, und die Naturmedizin der Einheimischen würde die Heilung beschleunigen. Es gab also keinen Grund mehr zur Eile. Trotzdem hatte er dem Steuermann, einem seiner samoanischen Polizisten, befohlen, mit voller Kraft zu fahren, und der Heizer, ein weiterer Polizist, kam kaum mit dem Schippen der Kohlen hinterher. Die Barkasse, ein altersschwacher Kahn, machte so laute Geräusche, dass eine normale Unterhaltung so gut wie unmöglich war.
»Wir sind gleich da!«, rief er.
Tuila richtete sich auf und löste sich aus Tupus sanfter
Umklammerung. Ihr Haar flatterte wie ein schwarzer Wimpel im Fahrtwind, als sie mit Tristan zum Bug des Schiffes ging, und dort wandte sie ihr Gesicht in Richtung der Küste von Savaii und der waldbedeckten Berge.
»Ich bin in diesem Moment sehr glücklich«, sagte sie.
Er lächelte. »Wieso?«
Tuila sah ihn an, als stelle ein Kind eine Frage, auf die man selbst nie gekommen wäre.
»Die beiden Männer, die ich am meisten liebe, sind nah bei mir.«
Sie blinzelte ihm sanft zu. In ihren Augen stand der Wunsch nach seinem Körper, und er erwiderte ihren Blick auf die gleiche Weise. Nur seine Uniform hielt ihn davor zurück, dieser verdammte Schneiderrock, das Symbol seiner Autorität. Der Steuermann sah von seinem Führerhaus aus zu, und Tristan fand, dass er ein schäbiges Vorbild abgeben würde, wenn er von seinen Leuten Disziplin im Dienst erwartete, selbst jedoch mit Frauen auf dem Vordeck eines kaiserlichen Polizeidampfers schmuste. Das verstand auch Tuila. Daher fragte sie: »Gehen wir nachher spazieren?«
Er nickte lächelnd. »Am Abend. Zum Mafane hoch, zu unserem Platz am Bach.«
»Mein Lieblingsplatz.«
»Irgendwann«, sagte er, »werden wir jeden Abend dort hinaufgehen, immer wenn die Sonne untergeht. Jeder einzelne Tag wird vollständig uns gehören, Tuila. Ich baue uns ein Haus, ein großes Haus. Und wir pflanzen Bäume, an denen große Früchte wachsen. Unsere Kinder werden sie für uns pflücken, wenn wir zu alt sind hochzuklettern.«
Ein Strahlen ging über ihr Gesicht. »Du bist ein seltsamer Mensch«, sagte sie. »Wie zwei in einem. Einer ist angefüllt mit Pflicht, der andere mit Liebe.«
Angespornt durch diese exakte Beschreibung, bekräftigte
er mit einem trotzigen Stirnrunzeln: »Du wirst sehen. Es wird so kommen, wie ich sage. Ich verspreche es.«
»Du darfst nicht länger mit ihm zusammenbleiben, hörst du?«
Tupus Augen hatten einen Ausdruck, der Tuila fremd war. Etwas Herausforderndes lag in ihnen, etwas Gewalttätiges. Es war, als halte er ihre beiden Handgelenke umschlossen und versuche, sie auf die Knie zu drücken. Er wollte, dass sie tat, was er befahl.
Die Geschwister befanden sich auf dem Weg nach Palauli, ihrem Dorf, wo sie beide noch im Haus der Eltern lebten. Tristans Boot hatte in Salelologa angelegt, an der Polizeistation, und dort hatten ihre Wege sich getrennt. Tuila würde ihn vermissen. Ihre Abende hatte sie ganz auf ihn ausgerichtet. Meistens kam er zur Zeit des Sonnenuntergangs. Dann klopfte er höflich an einen der Pfosten, die das offene fale umgaben, bat um Einlass, zog sich die Schuhe aus und setzte sich für einige Minuten zu ihren Eltern auf den Boden, anstandshalber. Sie sprachen nicht viel miteinander, weil es nichts zu sprechen gab. Was hatte ein betagter samoanischer
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