Der Duft der grünen Papaya
Tages auch in dieser oder einer vergleichbaren Stadt leben wollte. Ein ganzes Jahr lang hatte sie ihrem Vater damit in den Ohren gelegen. »Lass uns nach Sydney ziehen«, hatte sie wenigstens dreimal pro Woche gefordert. Seine Antwort war immer die gleiche geblieben: »Dafür haben wir kein Geld.«
»Wenn wir das Land verkaufen, haben wir es.«
»Das Land gehört Tante Ili und deiner Großmutter Moana.«
»Dann sollen sie es verkaufen.«
»Du verstehst nicht. Das Land ist uns nur geliehen. Von der Natur, vom Schöpfer. Wir geben es weiter an unsere Nachkommen.«
Geliehen! Von der Natur! Über solche mystischen Erklärungen wollte sie schon damals nicht nachdenken.
»Ich bin dein Nachkomme«, hatte sie gesagt. »Und ich will hier fort. Bitte, Papa.«
Er hatte sie finster angesehen. »Du wirst deine Meinung schon noch ändern, wenn du älter wirst.«
Sie hatte sie nie geändert. Nie. Auch nicht nach dem Tod ihres Vaters ein Jahr nach Sydney, diesem schrecklichen – sie suchte ein Wort – Desaster, das sie beinahe aus der Bahn geworfen hätte. Sie wollte Samoa unbedingt verlassen, dieses Land von Obstbauern, in dem bereits ein simpler Bankangestellter die beste Partie war, die man machen konnte. Ein Land, das sich stolz die Wiege der polynesischen Kultur nannte und es noch nicht einmal schaffte, einen florierenden Tourismus aufzubauen. Ein Land ohne Eleganz, ohne Zukunft.
Raymond brachte nun diese Zukunft. Nicht nur ihr, sondern vielleicht auch dem Land. Ili und Moana bekämen auf ihre alten Tage viel Geld, Samoa mehr Tourismus und damit verbundene Entwicklungschancen und die Kleinbauern auf Savaii einen möglichen Nebenverdienst. Niemand wurde übervorteilt oder betrogen. Bei diesem Geschäft gab es nur Gewinner, und sie wäre doch wirklich verrückt gewesen, nicht darauf einzugehen.
Trotzdem, bei dem Gedanken, es Tante Ili sagen zu müssen, wurde ihr unwohl. Vielleicht konnte sie ja jemand anderen finden, der ihr die Nachricht vom baldigen Verkauf überbrachte.
Ane stoppte auf dem kleinen staubigen Parkplatz vor der Anlegestelle in Salelologa. Bevor sie ausstieg, zupfte sie vor
dem Rückspiegel die Strähnen auf der Stirn zurecht, leckte kurz über die rosa geschminkten Lippen und strich den engen Einteiler an ihrem schlanken Körper glatt. An einem der schönsten Tage ihres Lebens wollte sie perfekt aussehen. Heute würde Raymond mit ihrer Großmutter den Kaufpreis besprechen. Dann musste nur noch der Vertrag aufgesetzt werden, und in wenigen Tagen schon wäre das Geschäft komplett.
Das Signalhorn der Fähre dröhnte verheißend durch die schwülwarme Luft. Grinsend lief sie auf den Anlegesteg und blickte dem Schiff entgegen. Als sie Raymond am Bug stehen sah, winkte sie ihm zu, und als er zurückwinkte, hüpfte sie einige Male auf und ab wie ein Kind.
Beinahe wäre sie über die Schnur gestolpert und hingefallen. In ihrem Alter ein halber Tod.
Für Ili war es nicht schwer zu erraten, wer die aus Kokosfasern geflochtene Schnur zwischen den beiden Papayabäumen gespannt hatte und warum. Sie sollte fallen und sich die Knochen brechen. Sie sollte vergeblich um Hilfe rufen. Sie sollte zerbrechen.
Nur ein Zufall, ein sich durch das Blätterdach stehlender Sonnenstrahl, hatte Ili auf die Falle aufmerksam gemacht und gerettet.
Sie löste die Schnur, steckte sie ein und machte sich auf den Weg zu jenem Teil des Papaya-Palastes, in dem Moana lebte.
Es wird immer schlimmer, dachte sie. Es wird die Hölle werden.
Seit achtzig Jahren dauerte die Fehde zwischen Moana und ihr nun an. Sie hatte sie nicht angefangen, aber sie hatte auch wenig dafür getan, sie zu beenden. Damals waren sie noch Kinder gewesen, und keine von ihnen hätte sich vorstellen können, wie der Streit eskalieren und schließlich
ihr ganzes Leben prägen würde – und das Leben von etlichen anderen Menschen. Trotz all der Verletzungen, die beide sich im Laufe der Dekaden zugefügt hatten, war es Ili gelungen, sich einen Rest von Selbstironie und sogar Humor angesichts dieses Konflikts zu bewahren. Alles in allem hatte sie die Zeit besser überstanden als Moana und auch zufriedener. Die Liebe zum Land und die schönen Erinnerungen an längst vergangene Tage machten die Mühen eines Lebens neben ihrer Kontrahentin wieder wett, wohingegen Moana weder liebte noch schöne Erinnerungen besaß. Im Grunde war Moana nichts geblieben, nichts als Hass.
Vielleicht war Moana genau das in einem hellen Moment bewusst geworden. Vielleicht
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