Der Duft der Rose
Vincent hatte sich nach einer knappen Viertelstunde mit einer windigen Ausrede davongemacht. Er hatte Henri nie wieder dorthin begleitet und auch keine Gespräche darüber zugelassen. Da er sonst über keinerlei Hemmungen verfügte, sondern im Gegenteil eine erfreuliche Neugier in Bezug auf neue erotische Erfahrungen besaß, war Henri über diese strikte Ablehnung mehr als erstaunt gewesen. Allerdings verzichtete er darauf nachzubohren und machte insgeheim Vincents Jugend für seine Reaktion verantwortlich.
»Nein, ich kenne ihn nicht.« Seltsamerweise empfand er eine gewisse Erleichterung darüber, nicht lügen zu müssen.
Vincent setzte sich wieder an den Sekretär und griff nach der Feder, die er in das Tintenglas tauchte, ehe er zu schreiben begann. »Gut. Wir sehen uns dann beim Mittagessen.«
Derart abgefertigt zu werden war für Henri eine völlig neue Erfahrung. Er holte tief Luft, um eine passende Antwort zu formulieren, aber das Kratzen der Feder ließ ihn innehalten. Es war nicht der geeignete Zeitpunkt für einen aus der Luft gegriffenen Streit. Sollte Vincent eben ein bisschen schmollen. Also drehte er sich um und verließ wortlos das Zimmer.
Im Gegensatz zu Frühstück und Abendessen beschränkte sich das Mittagessen auf drei leichte Gänge. Einer Räucherfischpastete folgte gebratenes Huhn mit verschiedenen Gemüsen und einem Omelette mit karamellisierten Äpfeln. Die Lakaien zogen sich erst zurück, nachdem sie das Dessert gereicht hatten, daher plätscherte bis zu diesem Zeitpunkt eine nichtssagende Konversation über das Wetter und die schlechten Straßen von Versailles nach Belletoile zwischen den drei Männern dahin.
Nachdem sich die Tür hinter dem letzten Diener geschlossen hatte, lehnte sich Henri in seinem Stuhl zurück und bedachte Farid mit einem Augenzwinkern. »Nun, mon cher, erzählt uns, was Euch in Madame Dessantes Augen dazu befähigt, hier auf Belletoile die Rolle eines Zeremonienmeisters für ganz spezielle Orgien zu übernehmen«, forderte er ihn gutgelaunt auf.
Farid legte die Gabel beiseite, mit der er gerade das Omelette untersucht hatte. Er saß Henri gegenüber, Vincent befand sich an der Längsseite des Tisches und blickte von einem zum anderen. Zu Henris Erleichterung hatte er seine schlechte Laune überwunden und behandelte Farid mit tadelloser Höflichkeit.
»Ich kam mit zehn Jahren zu Madame Dessante. Sie erwischte mich auf dem Markt, als ich einen Schinken stehlen wollte, und bot mir an, gegen Kost und Quartier als Page bei ihr zu arbeiten. Die Aussicht auf ein warmes Lager und regelmäßige Mahlzeiten waren gewichtige Argumente.« Er steckte ein Stück Omelette in den Mund und kaute genüsslich, ehe er fortfuhr: »Bis dahin zog ich mit einem Tross Zigeuner durchs Land. Meine Mutter verließ den Zug, als ich noch ein Säugling war. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich nicht sonderlich wohlgelitten war. Eine Zukunft im Haus einer feingekleideten Dame erschien mir deshalb durchaus erstrebenswert.«
»Verständlich.« Vincent nickte beifällig. »Und was waren Eure Pflichten als Page?«
»Nun, ich war klein und schmächtig und sah in orangen Pluderhosen, einem grünen Hemd und mit einem weißen Turban auf dem Kopf ausgesprochen entzückend aus. Die ersten Jahre diente ich nur als Dekoration im Foyer oder bei feierlichen Diners. Dank der regelmäßigen und reichhaltigen Mahlzeiten schoss ich natürlich schnell in die Höhe. Auch blieb mir nicht verborgen, was in den verschiedenen Salons vor sich ging. Nach meinem sechzehnten Geburtstag stellte es mir Madame Dessante frei, ob ich mehr sein wollte als ein dekorativer Page.« Er blickte bedeutungsvoll in die Runde.
Henri lachte. »Und welcher Sechzehnjährige wollte das wohl nicht.«
»Richtig. Eine vollerblühte Gräfin nahm sich meiner an, und ich dankte es ihr mit der unstillbaren Leidenschaft eines gerade zum Mann erwachten Jünglings.« Er zwinkerte verschwörerisch in die Runde. »Danach kamen viele andere, Frauen wie Männer. Ich erlernte mannigfache Möglichkeiten, Befriedigung zu schenken, und übte mich in den verschiedensten Spielarten der Lust. Ehe ich nach Belletoile aufbrach, organisierte ich bei Madame Dessante für Privatgesellschaften ausgefallene Arrangements nach den jeweiligen Vorlieben. Mir ist nichts fremd, Euer Gnaden, das könnt Ihr mir glauben. Nur in einem Punkt halte ich an Madame Dessantes Grundsätzen fest.«
Henri nickte. Diese Grundsätze waren hinlänglich bekannt. »Keine
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