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Der Duft des Anderen

Der Duft des Anderen

Titel: Der Duft des Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ahrens
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den Kittel. Frau von Stein stand in ihrem grünen Morgenmantel am Fenster und warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Was haben Sie denn, verehrter Doktor? Und wo bleiben die Buben? Es ist bereits zehn nach vier.«
    Dr. Vollrath machte eine fahrige Handbewegung zu dem kleinen Tisch in der Ecke. »Setzen wir uns doch. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.«
    Frau von Stein hob die Augenbrauen. »Etwas Ernstes? Ist etwas mit den Kindern?«
    »Nun ja.« Dr. Vollrath wartete, bis Frau von Stein sich gesetzt hatte. »Einer der Zwillinge ist tot!«, stieß er rau hervor und kaute auf seiner Unterlippe.
    Frau von Stein wurde um einen Schein blasser, aber sie bewahrte Haltung. »Tot?«, wiederholte sie. »Das ist doch unmöglich. Lieber Doktor, Sie müssen sich irren. Vor drei Stunden haben sie beide noch gelebt.«
    »Ich weiß.« Dr. Vollrath war bemüht, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. »Plötzlicher Kindstod, es tut mir so leid. Sie wissen ja, so etwas kommt vor. Plötzlich liegen die Kinder tot im Bett und niemand weiß …«
    »Kann ich den Buben sehen?«, fuhr sie kalt dazwischen.
    »Das ist …« Er fuhr sich zwischen Hals und Kragen. »… äh – unmöglich, der Säugling wurde sofort in die Pathologie gebracht. Sie müssen das verstehen, Frau von Stein. Der Kindstod ist noch unerforscht, und wir …« Er stockte und wendete den Blick ab von ihren durchdringenden, graugrünen Augen, die ihn aufspießten wie ein Bajonett. Er räusperte sich. »Frau von Stein, ich weiß, wie furchtbar das für Sie sein muss. Glauben Sie mir, ich …« Er unterbrach sich, weil er fühlte, wie sehr diese Frau sein Geschwätz verachtete. Mühsam rang er sich ein winziges Lächeln ab. »Ich habe auch eine gute Nachricht für Sie – Frau von Stein.« Er hatte versucht, verschwörerisch zu klingen, aber er kam sich nur lächerlich vor.
    Frau von Stein zerknüllte den Morgenmantel über ihren Schenkeln, das war ihre einzige Regung. Sie starrte Dr. Vollrath an. Er wartete – worauf eigentlich?
    »Was ist das für eine Nachricht, Doktor?«, fragte sie klirrend.
    »Oh – ja!« Dr. Vollrath lächelte jetzt so befreit, als habe ihm Frau von Stein das Parteiabzeichen für besondere Verdienste an die Brust geheftet. »Es geht um Ihren Ausreiseantrag. Den vom Februar dieses Jahres. Er – wurde noch einmal überprüft.«
    »Aus welchem Anlass?«, unterbrach sie ihn eisig.
    »Nun – aus gegebenem Anlass«, stotterte Dr. Vollrath und bemühte sich, im Zimmer irgendeinen festen Punkt zu finden, der seinen Blicken Halt bot. »Aus gegebenem Anlass«, wiederholte er leise, »ich meine, ich habe gewisse Verbindungen zur Parteispitze.«
    »Das bezweifele ich nicht«, erwiderte sie, während sie den Morgenmantel über ihren Schenkeln wieder glatt strich, »doch weshalb bemühen Sie sich in dieser Sache um mich?«
    Dr. Vollrath lächelte ölig. »Gnädige Frau, wir sind hier doch unter uns – ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine.«
    »Tut mir leid, Doktor, ich verstehe Sie nicht.«
    Dr. Vollrath legte seine gepflegten Hände aneinander und betrachtete die Fingerspitzen. »Ich meine, in unseren Kreisen muss man zusammenhalten. Natürlich setze ich mein ganzes Vertrauen in den Sieg der Internationale, aber bei allem Respekt, auch der Kommunismus bedarf einer Elite.«
    Frau von Stein musterte ihn mit einem Blick, der Dr. Vollrath zusammenzucken ließ. »Wenn es so ist, wann kann ich das Land verlassen?«
    »Noch in dieser Woche«, murmelte Dr. Vollrath. Und als er ihr Zimmer verließ, wusste er, dass diese Frau sich nichts vormachen ließ. Stillschweigend war sie bereit, den grausamen Preis zu zahlen, nur um diesem Land endlich den Rücken kehren zu können.
    ***
    Das ›tote‹ Baby schlief in einem Wäschekorb, den Maria mit Kissen und Decken weich und behaglich gemacht hatte. Seit drei Wochen stand er neben ihrem Bett, und er gehörte bereits zur Einrichtung. Auch ihren Tagesablauf hatte sie in den letzten drei Wochen nach dem Kind ausgerichtet. Es waren drei glückliche Wochen gewesen. Doch heute war sie gedrückter Stimmung. Die adlige Mutter des Knaben hatte zwar schon vor zwei Wochen das Land verlassen, aber Hellmuth Kosznik und Frau, welche die Bruderrepublik Ungarn bereist hatten, mussten schon seit gestern wieder im Lande sein.
    Maria seufzte. Sie konnte die Übergabe nicht länger hinausschieben. Sie nahm ihre Strickjacke von der Stuhllehne und zog sie an. Ihre Blicke wanderten durch das kleine Wohnzimmer mit den

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