Der Duft des Anderen
beunruhigend, dass sie heute einen Hausputz veranstaltet hatte, ohne es zu merken. Wo waren die beiden letzten Stunden geblieben? Hatte sie gearbeitet, oder war sie durch die Räume getanzt? Sie ließ sich in einen Sessel fallen und betrachtete den sauberen Teppich. Den musste sie wohl soeben gesaugt haben. Auf dem Tisch lagen keine Zeitschriften mehr, sie erkannte sogar Spuren eines feuchten Lappens. Die Mattscheibe des Fernsehers glänzte, die graue Staubschicht war verschwunden. Und wo war das Sammelsurium jener unbegreiflichen Dinge geblieben, die jeder freien Fläche ihre exquisite Note verliehen hatten? Sie mussten wohl in den Schubladen verschwunden sein, und Barbara ahnte, dass sie nichts wieder finden würde. Wie bei den Heinzelmännchen zu Köln waren Ordnung und Sauberkeit in ihr Heim eingekehrt, weil ihre Gedanken sich auf eine Reise begeben hatten. Auf die Reise zu ihm, und weil Alexander sie bei ihren Tätigkeiten begleitet hatte, hatten sie ihre Beschwernis verloren.
Allerdings fand sie es unrühmlich, seine geistige Präsenz für Hausarbeit eingesetzt zu haben. Wenn der Gedanke an Alexander schiere kosmische Energie freisetzte, wollte sie diese für Sinnvolleres nutzen. Zwar war der Himmel heute bewölkt, das Oberlicht würde nicht sehr gut sein, aber das musste sie hinnehmen. Zwei Stunden mit Putzen verloren! Wie konnte sie nur so willensschwach gewesen sein!
Eine halbe Stunde später stand sie im Malerkittel vor ihrer Staffelei und begann wild mit verdünnter Ölfarbe zu skizzieren. Das Porträt eines Mannes zeichnete sich ab, und natürlich sollte es Alexander Kirch werden. Ein Porträt bereitete ihr gewöhnlich keine Schwierigkeiten, dennoch war sie nicht zufrieden. Immer wieder wischte sie die Striche mit einem in Terpentin getränkten Lappen fort und begann von Neuem. Sie vergaß, sich Kaffee zu kochen, sie machte keine Musik an. Es wurde langsam dunkel, doch erst, als sie kaum noch etwas sah, zwang sie sich, vom Bild zurückzutreten und das Licht anzuschalten. Jetzt wischte sie die Striche nicht mehr fort und begann mit dem Farbauftrag. Ungeduldig verzichtete sie auf die Untermalung und malte das Bild Nass-in-Nass. Ihr Gesicht war angespannt, verschwitzt, und ihr Rücken wurde steif. Sie nahm sich fünf Sekunden, um sich zu strecken. Hin und wieder trat sie ein paar Schritte zurück, um das Bild aus der Entfernung zu betrachten. Es war Alexander ähnlich, aber war das Kinn nicht zu kantig? Und die Nase nicht zu groß? Den verhangenen Blick hatte sie gut getroffen, aber die Gesichtsform gefiel ihr nicht, und was war mit dem Mund? Zu breit. Teufel auch, hatte sie das Malen verlernt?
Als sie die Palette und die Pinsel endlich zur Seite legte und auf die Uhr schaute, war es ein Uhr nachts. Sie zuckte die Schultern, warf einen letzten erschöpften Blick auf das Bild und war zufrieden. Ja, das war Alexander. Und nun musste sie konsequent sein und die Staffelei umdrehen, sonst würde sie die ganze Nacht daran herumwerken. Sie ging hinunter, ließ Badewasser ein und stellte den Wecker auf neun Uhr.
Als er schrillte, schreckte sie hoch aus süßen Träumen. Schlaftrunken tappte sie in die Küche, um Kaffee zu kochen. Sie hatte einmal einen Film gesehen, der behauptete, bereits um sieben sei die Welt in Ordnung, dem konnte sie überhaupt nicht zustimmen. Um diese Zeit war die Welt ein Jammertal. Im Morgenmantel und mit Gummiband im Haar saß sie am Küchentisch und schlürfte ihren Kaffee. Doch bei aller Müdigkeit hatte sie nur einen Gedanken: sich das Bild anzusehen, denn am nächsten Tag entdeckte sie stets noch einige Schwächen.
Der Morgen war sonnig und das Licht auf dem Boden gut. Als sie die Staffelei umdrehte und das Bild betrachtete, war sie überrascht, wie gut es ihr gelungen war. Ja, es war fantastisch. Sie konnte nicht den geringsten Fehler entdecken. Versunken und verliebt starrte sie es an. Verliebt in wen? In Alexander? War das überhaupt Alexander? Je länger sie hinschaute, desto mehr schien ihr die Sache zu einem Vexierbild zu geraten. Als hätte sie zwei Gesichter übereinander gemalt, so wie man im Computer aus zwei Fotografien ein neues Gesicht kreieren konnte. Der Mann auf dem Porträt war zweifellos Alexander, aber er war auch – Sascha! Ein Gesicht, das die Züge zweier Personen miteinander verschmolz. Wie war das möglich? Sie musste es instinktiv so gemalt haben. Alexander und Sascha – kein Liebespaar, kein du und ich. Alexander war Sascha und Sascha war
Weitere Kostenlose Bücher